Frau des Windes - Roman
wieder zurückkommen, Lady Carrington.«
»Ich bin keine Lady, meine Familie besitzt keine Adelstitel, aber sie hält sich für sehr wichtig und hat dafür gesorgt, dass ich hier eingesperrt werde.«
»Warum wollen Sie denn hier weg? Draußen findet ein Gemetzel statt. Hier drinnen werden wir wie Könige behandelt.«
»Aber ohne Höflinge. Ich habe eine Melodie im Kopf und würde gerne tanzen.«
»Gehen Sie hinaus in den Garten und tanzen Sie, folgen Sie Ihrem Instinkt. Ich würde Sie ja begleiten, wenn ich nicht an den Herzog von Sessa und an die Eltern von Cayetana de Alba schreiben müsste, um ihnen zu raten, einen anderen Friseur für sie zu suchen.«
Sogleich verlässt Leonora wiegenden Schrittes, die Arme über dem Kopf, den Raum. Die Freiheit ihres Körpers gehört jetzt ihr allein, ihre federleichten Oberschenkel tragen sie fort aus dem Irrenhaus. ›Ich werde niemals müde werden!‹ Als es dämmert, kreist Leonora um sich selbst und versucht, eine Ballade zu singen, die keine Worte braucht. Die Melodie begleitet ihren Herzschlag. Der Fürst von Monaco verlässt seine Schreibmaschine, wirft die Briefe in die Luft, kommt mit unsichtbaren Kastagnetten in den Händen zu ihr heraus und stampft ausgelassen, bis Frau Asegurados Schrei erschallt:
»Ab ins kalte Wasser mit diesen Verrückten!«
Der Große Bär
Leonora hört die Schreie der anderen Insassen, hört das Rücken von Stühlen und den Regen an der Fensterscheibe. Frau Asegurados Stimme kann sie nicht leiden, die von Piadosa und José dagegen mag sie. Ihnen antwortet sie mit einem Nicken, denn sie weiß, dass die beiden etwas Ähnliches wie Zuneigung für sie empfinden.
»Hör nicht auf zu essen; damit du bald hier rauskommst«, rät ihr José.
Sie würde ihn gerne fragen, was das für eine Sirene ist, von der sie jeden Morgen geweckt wird. Eine Fabriksirene? Bombenalarm? Ist es der Krieg? Oder erteilt man ihr damit den Auftrag, den Tag zu befreien? Muss sie zum Pavillon Unten laufen und die Türen öffnen, damit alle hinauskönnen?
Sie steigt auf einen Stuhl, klettert auf den Kleiderschrank und hält Wache, fast mit angehaltenem Atem. An einem erhöhten Ort zu sein ist herrlich. Sie ist ein Höhenvogel, der die Tür belauert. Ein magnetischer Strom hält sie oben. Wenn jemand hereinkommt, wird sie sich auf ihn stürzen.
»Schau an, wie die Verrückte da oben sich im Gleichgewicht hält!«, ruft Santos, der mit einem Wassereimer den Raum betritt.
»Provozieren Sie mich nicht, ich bin Malerin.«
»Ach ja? Wenn einer in seiner eigenen Scheiße geschlafen hat, werden auch seine Ansprüche beschissen.«
Leonora verkrampft sich. Will Santos sie etwa mit seinem Wassereimer vom Schrank scheuchen? Zum Glück geht er wieder, sie meint sogar, ihn schmunzeln zu sehen.
Piadosa kommt mit einem Tablett herein, auf dem Leonora ein Glas Milch, Obst, Kekse, Honig und eine Zigarette aus hellem Tabak liegen sieht.
»Ihr Frühstück, kleine Engländerin«, flüstert Piadosa, ohne nach oben zu schauen.
Leonora klettert vom Schrank, und als sie sieht, wie die Nahrungsmittel auf dem Tablett verteilt sind, ist sie sich auf einmal sicher, dass die Ärzte sie in den Pavillon Unten verlegen werden. Dort ist es luxuriös wie im Ritz, und die Fenster öffnen sich auf das Glück, denn vor jedem steht ein Baum.
Sie überlegt, wie sie am schnellsten nach Unten gelangen könnte. Das hängt wahrscheinlich davon ab, wie sie die Apfelkerne, den Pfirsichkern und die Traubenhäutchen auf dem Teller anordnet. Sie muss Sternbilder nachstellen: hier den Großen Bären, dort das Siebengestirn, weiter drüben den Kleinen Bären, den Pfirsichkern nach rechts und auf die andere Seite die grünen Traubenhäutchen. Wer hatte ihr noch mal gesagt, sie habe eine Pfirsichhaut?
Ihre Krankenschwester bereitet ihr ein Bad.
»Waschen können Sie sich selbst, hier sind Schwamm und Seife.«
Vorsichtig drückt Leonora den Schwamm aus, er ist ein Lebewesen, er hat im Meer gelebt.
»Sind Sie fertig? Warum brauchen Sie so lange? Ich bringe Sie ins Sonnenzimmer.«
Leonora tanzt nackt mit dem Badetuch, und als sie es hochhebt, merkt sie, dass ihr das Firmament gehorcht, eine entscheidende Voraussetzung, um das Problem ihres Ichs in Bezug zur Sonne endlich in den Griff zu bekommen.
Das Sonnenzimmer verströmt blendendes Licht; in diesem Licht lässt Leonora den Schmutz der Materie hinter sich und gelangt in eine andere Sphäre. Stundenlang liegt sie dort, während die Sonnenstrahlen durch die
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