Frau des Windes - Roman
ausgebildete Krankenschwester ist und du nicht.«
»Aber ich kenne dich, seitdem du ein kleines Kind warst.«
»O Nanny, hör endlich auf damit, du machst mich nervös.«
Nannys Eifersucht wird für Leonora zu einem kosmischen Problem, das zu all ihren anderen, noch ungelösten hinzukommt. An oberster Stelle steht ihr Umzug nach Unten.
In Saint-Martin d’Ardèche hatte sie im Bewusstsein ihrer Schönheit den Mut, sich nackt zu zeigen, jetzt ist sie ein Skelett. Man kann ihre Rippen zählen, die Schlüsselbeine springen hervor, ihre Hüftknochen sind Kleiderhaken, ihr hohler Magen stößt sie ab, die eingefallenen Wangen gleichen verschrumpeltem Obst.
»Was haben sie nur mit mir gemacht?«
Über den Wangenknochen ist die gelbliche Haut zum Zerreißen gespannt.
»Ich sehe aus wie Frankensteins Monster.«
Nanny weint.
»Du gehst mir auf die Nerven mit deinem Geschluchze! Sei still oder heul woanders. Ich will nichts von dir hören, fahr zurück nach Lancashire.«
In ihrem Narzissmus kreist Leonora nur um sich selbst.
»Du bist so anders geworden«, klagt Nanny, »du bist nicht mehr die Prim, die ich von Geburt an kannte.«
»Ich bin ja auch nicht mehr dieselbe. Was willst du hier? Geh endlich!«
»Ich liebe dich, Prim, unabhängig von deinen Eltern.«
Leonoras Zorn ist so groß, dass sie ihn nicht zu unterdrücken vermag. Am liebsten würde sie Nanny zermalmen, auf ihrer Asche herumtrampeln, vergessen, dass es sie gibt.
»Du kannst nicht mit mir in den Park gehen.«
»Warum, Prim?«
»Weil Frau Asegurado mich begleitet.«
Jeden Morgen um elf, wenn sie mit der deutschen Krankenschwester in den Park geht, gibt sie Nanny irgendeine Beschäftigung, damit sie ihnen nicht folgt.
»Ich will nicht an dich denken müssen. Wie soll ich deine Eifersucht ertragen, wo ich mich doch selbst kaum ertrage.«
Sie kränkt sie stellvertretend, beleidigt durch sie ihren Vater. Nanny ist nicht mächtig, Nanny ist nichts, nur ein Fetzen Vergangenheit. Indem sie sie demütigt, macht Leonora sich zur Komplizin der beiden Morales, unterwirft sich den Ärzten. Sie werden sich von Henkern zu Verbündeten wandeln und sie freilassen.
Nicht einmal in ihren schlimmsten Albträumen hätte Nanny geahnt, dass Prim sie eines Tages verraten würde.
»Ich gehe nicht mit dir zurück, kapierst du das? Hazelwood ist vorbei, mein Ziel ist jetzt Unten.«
Neben dem Pavillon Unten weitet sich der Park ins Unermessliche, und vor allem öffnet sich dort das Garagentor, das Leonora lauernd beobachtet, um Don Luis in seinem Auto hineinfahren zu sehen.
Ein paar Schritte weiter liegt eine Höhle, in der die Gärtner ihre Geräte aufbewahren und das welke Laub anhäufen. In Leonoras Phantasie ist der Laubhaufen der Grabhügel, unter dem Covadonga liegt.
›Die beiden glauben, ich sei Covadonga‹, sagt sie sich, ›und sei gekommen, um die Tochter zu ersetzen. Deswegen wollen sie auch mich hier begraben.‹
Die Morales haben nicht nur ein Auto, sondern auch ein eigenes Esszimmer. Mittags zieht ein widerlicher Gestank in Leonoras Zimmer. Die Gärtner verteilen Dung auf dem Rasen. Leonora begreift nicht, wie Mariano Morales, Gottvater, es zulassen kann, dass man ihr derart das Essen vergiftet. Empört steht sie auf und begibt sich, gefolgt von ihrer Krankenschwester, in das private Esszimmer der Ärzte. Die beiden beachten Leonoras freches Eindringen nicht weiter, Don Luis sagt auf Deutsch etwas zu Frau Asegurado. Verärgert darüber, dass er sich nur an ihre Krankenschwester wendet, und dazu noch auf Deutsch, setzt Leonora sich zwischen die beiden und spürt, wie durch sie hindurch elektrischer Strom vom einen zum anderen fließt. Als sie aufsteht, löst sich auch die elektrische Spannung auf. ›Dieser Strom ist das Fluidum der Angst, die sie vor mir haben.‹
Da Don Luis weiterisst, bittet Leonora José um Papier und Stift und zeichnet den Kosmos (den Vater), die Sonne (den Sohn) und den Mond (sich selbst). Sie reicht ihrem Arzt die Zeichnung, der aber gibt sie ihr wortlos zurück. Enttäuscht geht Leonora in die Bibliothek der Villa Covadonga, nimmt ein Buch von Miguel Unamuno aus dem Regal und schlägt es aufs Geratewohl auf. ›Gott sei Dank haben wir eine Feder und Tinte‹, liest sie und ist überzeugt davon, dass dies eine Botschaft aus dem Kosmos ist.
Eine Libelle setzt sich auf ihre Hand und klammert sich daran fest, als wolle sie sich nie mehr von ihr trennen. Leonora betrachtet sie regungslos, bis sie tot auf die Fliesen
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