Frau des Windes - Roman
ihr etwas aus.
»Dort drüben, Renato, wo das Meer endet, sehe ich ein Schloss.«
»Das ist eine Luftspiegelung.«
»Jesus kommt übers Wasser gelaufen.«
»Ich dachte, du bist nicht gläubig.«
»Sieht aus, als sei er betrunken, er läuft im Zickzack.«
Sie genießt das Morgengrauen, die Abenddämmerung, die salzige Meerluft und den Möwenflug, seit Ewigkeiten hat sie sich nicht mehr so wohl gefühlt.
New York
Leonora und Renato wohnen in Manhattan, in der West 73rd Street 306. Morgens geht Leduc in die mexikanische Botschaft, und Leonora wirft sich den Regenmantel über die Schultern, zündet sich eine Zigarette an und verlässt, noch ein wenig ängstlich, das Haus, nachdem sie vier Tassen Tee getrunken hat. Sie wandert durch die Straßen, Gehen ist ihre liebste Beschäftigung. Wie dieses New York dem Himmel trotzt! Doch nicht nur in die Höhe wächst die Stadt, sie streckt ihre Wurzeln tief in den Meeresboden, wo die Wolkenkratzer sich festklammern, um nicht abzuheben. Die Leute schweben durch die Straßen, mit Flügeln statt Armen. Durch den Central Park zu laufen ist wie ein Spaziergang durch den Garten Eden. Raschen Schrittes gehen die Passanten vorbei, ihre Haut ist straff, ihre Haare und Augen glänzen. Fröhlich grüßen Männer, Frauen, Kinder einander. Welch einen Atem die New Yorker haben, und dieses Zahnpastalächeln! Leonora schlüpft in die Stadt wie in ein neues Kleid, und der Boden knistert unter ihren Hufen. ›Spanien war einmal, Spanien ist für immer vorbei, nie wieder kehre ich dorthin zurück. Hier weihe ich eine neue Leonora ein.‹
Renatos Art zu leben hebt ihre Stimmung. Immer hat er einen flotten Spruch auf den Lippen: »Nimm’s nicht so schwer, Leonora. Neuer Tag, neues Glück – hier und jetzt!«
In der U-Bahn entdeckt Leonora auf dem Bahnsteig zwischen einem Schwarzen, der so groß ist wie die Freiheitsstatue, und einer Puerto-Ricanerin mit langen Ohrringen ihre alte Freundin Stella Snead aus der Akademie Ozenfant. »Nicht zu fassen, die Welt ist wirklich ein Dorf!« Stella erzählt ihr, Amédée Ozenfant sei ebenfalls in New York, er unterrichte nach wie vor. »Lass uns bei ihm vorbeischauen.« Ozenfant behandelt die beiden nicht mehr wie Schülerinnen. »Dieses Wiedersehen müssen wir feiern!«, sagt er und lädt sie zum Tee bei Tiffany’s ein. Jetzt sind sie Kollegen. Abends erzählt Leonora Renato, wie sie den Tag verbracht und dass sie Max Ernst getroffen hat.
»So ein Zufall, schon wieder dieser neurotische Affe.«
»Wir sind uns in der Pierre Matisse Gallery über den Weg gelaufen. Er und Peggy Guggenheim laden uns für Samstagabend zum Essen ein, da kann ich ihm gleich seine Gemälderolle zurückgeben. Er hat mir erzählt, als er gerade aus dem Flugzeug gestiegen sei und Jimmy ihn habe umarmen wollen, hätten zwei Beamte ihn verhaftet und nach Ellis Island gebracht. Auf einem Zeitungsfoto sieht man wirklich die Panik in seinem Gesicht. Sie haben ihn in eine Zelle gesperrt. Darauf hat Jimmy Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, und dank der Hilfe des Direktors des New Yorker Museum of Modern Art und Peggys Geld ist er wieder freigekommen.«
»Mensch, der Junge kann einem leidtun, er hat keinen Versorger zum Vater, sondern einen Zuhälter.«
»Wie bitte?«
»Dein Max lebt doch von den Frauen.«
Peggy besitzt ein Haus in der Nähe des Hudson River, im Diplomatenviertel Sutton Place. Sie begrüßt Leonora mit langem Gesicht, Renato indessen umarmt sie. An diesem Abend entsteht ein Gruppenfoto mit Peggy, Kurt Seligmann, Jimmy Ernst, Berenica Abbott, Marcel Duchamp, Amédée Ozenfant, André Breton, Fernand Léger, Marcel Duchamp und Piet Mondrian.
»Man Ray nimmt sich zu ernst«, sagt Leonora zu Renato. »Marcel ist viel umgänglicher.«
»Duchamp mit seinem ewigen Schachspielen ist eine Nervensäge und Max ein Neurotiker sondergleichen. Willst du dich nicht irgendwann mal von den Surrealisten distanzieren?«, fragt Renato.
»Sie sind meine Familie«, erwidert Leonora.
Wirklich sympathisch findet Renato nur Luis Buñuel, neben den er sich bei Zusammenkünften am liebsten setzt. Der schwingt keine großen Reden, sondern stellt ihm stattdessen mit seinen neugierigen vorstehenden Augen Fragen zu Mexiko.
Nachts träumt Leonora, Peggy und sie wären zwei verfeindete Heuschrecken, und während sie sich zankten, würden alle anderen nur zuschauen, ohne sich einzumischen.
Leonora, Max, Peggy Guggenheim, André Breton mit Jacqueline Lamba, Marcel Duchamp, Luis Buñuel
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