Frau des Windes - Roman
Augen lässt. Seine Obsession heißt schlicht Leonora. Und Peggy leidet. Das Warten auf Max wird zur Qual.
»Alle machen Bemerkungen darüber, dass du die ganze Zeit mit ihr unterwegs bist«, protestiert Peggy. »Dabei hast du es mir zu verdanken, dass du in New York bist, nicht ihr.«
Auch Jimmy Ernst ist beunruhigt über die sonderbare Mischung aus Verzweiflung und Euphorie im angespannten Gesicht seines Vaters, über dessen starre Augen und die vor Bitterkeit schmalen Lippen.
»Dir ist nur eins wichtig: dass du die Engländerin wiedergefunden hast.«
Jimmy existiert für ihn nicht.
Max setzt sich neben das Telefon und wartet auf einen Anruf von Leonora. Bleibt er aus, sackt seine Stimmung auf den Tiefpunkt.
»Heute nicht«, antwortet Leonora, ohne zu merken, dass sie ihn in den Abgrund stürzt.
Die Wochenenden widmet sie Renato, der mit ihr nach Coney Island fährt. »Wir werden in die älteste Achterbahn Amerikas steigen«, verkündet er, und Leonora lässt sich führen. Mehr und mehr gewöhnt sie sich an Renatos Gegenwart; wenn er sich verspätet, wird sie unruhig.
In jenen Tagen wissen Max’ verzweifelte Augen nicht, wohin sie schauen sollen, und wenn er grundlos lacht, klingt sein Lachen verletzend.
»Letzte Nacht haben sechs Gänse die Fifth Avenue überquert«, erzählt Leonora ihm. »Sie watschelten bis nach Sutton Place, weil sie bei dir zu Hause fürs Abendessen mit Trüffeln gefüllt werden sollten, doch plötzlich kam eine Hyäne, verschlang die Gänse … und damit das Abendessen.«
Mitunter protestiert Leonora, und er weiß nicht, wie er darauf reagieren soll. Ihre Ironie macht sie unnahbar. Max würde sie gern in die Arme nehmen, aber sie lässt es nicht zu. Seitdem sie Saint-Martin d’Ardèche verlassen hat, ist sie nicht mehr dieselbe; die Feindseligkeit zwischen ihnen wächst.
»Und Peggy?«, fragt Leonora.
»Peggy ist eine Managerin.«
Weiße Kaninchen
In den Schluchten der Wolkenkratzer zieht Leonora ihre Bahnen, begeistert von ihrem neuen Leben, das intensiv ist und rasant, geradezu schwindelerregend. Wie kann man so glücklich sein, nachdem man so unglücklich war? Morgens erwacht Leonora leicht wie eine Feder, die Surrealisten reden über ihren Humor, ihre anarchistischen Aktionen. Kaum zu fassen, wie anders sie geworden ist seit der Villa Covadonga. Die Engländerin ist dankbar dafür. ›Nie hätten die Morales sich träumen lassen, dass ich eines Tages dieser fliegende Drachen sein würde, an den alle sich hängen wollen.‹ Bisweilen fährt ihr, mitten im Wirbelwind, ein Dolchstich zwischen die Schulterblätter. ›Das sind meine beiden Flügel, die zu wachsen versuchen‹, denkt sie, ›meine Flügel, um Loplop zu entkommen.‹
»Morgen will ich allein sein, Max.«
»Morgen werde ich schreiben, Max.«
»Morgen bin ich fest verabredet, Max.«
An den Tagen, an denen sie sich die Haare wäscht, bekommt er sie nicht zu sehen. Leonora kündigt die Zeremonie im Voraus an: »Am Donnerstag wasche ich mir die Haare.« Nachdem sie sie ausgespült hat, setzt sie sich ans Fenster, um sie in der Sonne trocknen zu lassen, schiebt den dunklen Vorhang vor ihrem Gesicht auseinander, um die schwarzen, rußverschmierten Gebäude zu betrachten, denen ihr eigenes vermutlich gleicht.
Sich von Max geliebt zu wissen, aber fern von ihm, ist eine Erholung.
Durchs Fenster beobachtet sie einen Raben, der sich auf der Balkonbalustrade am Gebäude gegenüber niederlässt. Der Rabe kratzt sich, sucht irgendetwas unter seinem Flügel, während eine Frau auf den Balkon tritt und einen Teller auf den Boden stellt, vom Raben krächzend begrüßt. Die Frau schaut zu Leonora herüber, lächelt ihr zu und fragt sie, ob sie noch ein wenig altes Fleisch für ihren Raben habe.
Leonora kauft Fleisch und wartet, bis es zu stinken beginnt, dann packt sie es ein und überquert die Straße. Die Frau öffnet ihr die Tür. Ihr weißes Gesicht ist mit tausend winzigen Sternchen übersät.
»Kommen Sie mit hoch«, sagt sie.
In ihrer Wohnung warten hundert weiße Kaninchen mit rosigen Augen darauf, dass sie ihnen das faulige Fleisch hinwirft, und reißen es sogleich in Stücke. Die Gastgeberin zeigt auf einen Mann, der in der Ecke in einem Sessel sitzt und eine ebenso glitzernde Haut hat wie sie.
»Ich möchte Ihnen Lazarus vorstellen.«
Auf Lazarus’ Knien hockt ein großes Kaninchen, das gerade an einem Stück Fleisch nagt. Die Frau nähert ihr Gesicht dem Leonoras, so dass diese ihren fauligen Atem riechen
Weitere Kostenlose Bücher