Frau Ella
Orchester. Tanzmusik. Ihre rechte Hand suchte und fand auf den Bettrahmen klopfend den Rhythmus. Ein Tango. Wieder aus einer vergangenen Zeit. Die Nachttischlampe erinnerte sie an die Möbel in der Stube und ihre Verwirrung vor wenigen Stunden, nur war sie jetzt sicher, in der Zeit zu sein, in der sie zu sein hatte, war nicht mehr verunsichert, sondern genoss die schmachtend vibrierende Stimme. Schließlich stand sie auf.
Vorsichtig spähte sie durch den Türspalt, sah den jungen Mann auf dem alten Sofa liegen und an die Decke starren. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wirkte wie ein bockiges Kind. Sie hatte gedacht, dass sie für diese trotzigen Reaktionen verantwortlich war, dass er da mit ihr in eine Situation geraten war, die ihm zu schaffen machte. Vielleicht war er aber auch ohne sie nicht glücklich. Es war nicht ganz leicht zu wissen, wie das heute aussah, wenn jemand glücklich war. Sicher fehlte ihm eine Frau, die für ihn sorgte. Das musste es sein. Ansonsten war er sehr höflich und freundlich. Meistens zumindest. Sie wusste nicht, warum, aber sie hatte nicht das Gefühl, dass er die Musik genoss, nur warum hörte er sie dann? Das war Musik, wie man sie in ihrer Jugend gehört hatte, ganz früher, ja, die Musik war noch älter als seine Möbel.
»Hallo Frau Ella«, sagte er plötzlich, ohne den Kopf zu bewegen. »Mögen Sie Gardel?«
Sie trat in die Stube und lächelte entschuldigend.
»Nicht, dass Sie denken, ich beobachte Sie. Ich dachte, Sie schlafen.«
»Kommen Sie. Setzen Sie sich doch.«
»Danke, wenn ich gelegen habe, stehe ich gerne ein wenig, um in Schwung zu kommen. Sehr schön, diese Musik. Wer, sagten Sie, singt da?«
»Gardel. Carlos Gardel, ein argentinischer Tango-Star von früher. Das war noch Musik.«
»Aber das war doch wohl vor Ihrer Zeit, oder?«
Jetzt guckte er wieder trotzig. Dann lächelte er schmal, nicht wirklich fröhlich.
»Tja, das war wohl vor meiner Zeit.«
Sie schwiegen. Sie versuchte zu verstehen, was er damit gemeint haben könnte. Beneidete er sie etwa um ihr Alter? Das war ja Unsinn. Auf seinem Schreibtisch entdeckte sie neben einer riesigen Schreibmaschine eine Uhr, ein goldenes Ziffernblatt in einem rechteckigen Kasten aus dunklem Holz, gerade groß genug, dass sie auch ohne ihre Brille erkennen konnte, wie spät es war.
»Sagen Sie, hat sich denn dieser Pfleger nicht gemeldet? Ich muss dann doch bald mal wieder nach Hause.«
»Ich frage mich auch, wo der bleibt. Seine Schicht müsste längst vorbei sein. Vielleicht hat er Ärger bekommen. Wissen Sie was?«, fragte er unvermittelt mit Schwung und stand plötzlich auf. »Wir könnten schauen, ob Ihnen nicht irgendwas von mir passt. Ich meine, nicht dass es mich stören würde, aber Sie können ja nicht den ganzen Tag im Nachthemd herumlaufen, oder?«
Das hatte sie ganz vergessen, dass sie hier nicht einfach auf ihre Sachen wartete, ohne ihre Papiere, ohne Schlüssel, ohne ihre Badesachen in einer fremden Wohnung stand, sondern dass sie nichts als ihr Nachthemd anhatte. Aber was würde er für Sachen haben, die ihr passten? Bevor sie etwas sagen konnte, war er im Schlafzimmer verschwunden. Sie lauschte dem nächsten Lied und genoss das Kribbeln in den Beinen, die langsam auch wieder richtig zum Leben erwachten. Vor, zurück, zur Seite, weiter. Sie versuchte, sich an die Schritte zu erinnern. Irgendetwas stimmte noch nicht. Vor, zurück, zur Seite, weiter. Ein Mann hätte sie mit sicherer Hand geführt.
»So«, hörte sie ihn hinter sich und beendete ihren kleinen Tanz. »Das ist zwar keine Ausgehgarderobe, aber es müsste Ihnen eigentlich passen.«
Sie drehte sich, leicht beschwingt, auf dem rechten Fußballen zu ihm um und sah eine Art Sportausrüstung in seinen Händen.
»Meine Joggingsachen für den Winter. Seit Jahren unbenutzt. Soll ich Ihnen helfen?«
»Ich bitte Sie«, entfuhr es ihr. »Ich werde mich ja wohl noch selbst umziehen können.«
Da sah er sie wieder so komisch an! Mit den seltsamen Kleidungsstücken, einer Hose und einem Pullover aus flauschigem Stoff, ging sie ins Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. So eine Respektlosigkeit! Ihr beim Umziehen helfen! Es wurde Zeit, dass sie nach Hause ka m . Durch die Tür hörte sie noch immer den Tango. Sie musste sich beruhigen. Sie durfte nicht so empfindlich sein. Gerade eben war alles noch in bester Ordnung gewesen. Er hatte ihr immerhin das Leben gerettet.
»Komm, Frau Ella«, sagte sie leise und freute sich über
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