Frau Ella
in Frage stellte, dass sie es nicht verstand. Auch sie betrachtete alles nur mit einem Auge, nur von der anderen Seite. Die Dinge veränderten sich langsam, seit sie bei ihm war, wurden irgendwie bunter, tiefer und zugleich leichter, wenn das überhaupt möglich war. Sein Magen zog sich zusammen, als wäre er verliebt in die Frau, der er gestern noch den Tod gewünscht hatte, nur um sie loszuwerden. Zwischenmenschliche Beziehungen, so viel war sicher, waren nicht seine Stärke, auch dann nicht, wenn es um eine einäugige Alte ging. Und über die wusste er herzlich wenig, hatte keine Vorstellung davon, wie jemand dachte, der schon so viel erlebt hatte, wie man mit all diesen Erinnerungen lebte.
»Sagen Sie, Frau Ella«, setzte er an. »Wenn Sie auf einem Bauernhof aufgewachsen sind, wie hat es Sie eigentlich in die Stadt verschlagen?«
»Warten Sie, mein Junge, ich mache schnell die Eier und die Milch. Das haben sie mir damals nicht beigebracht, die Milch für den Kaffee so seltsam aufzuschäumen, aber es klappt auch so.«
Sie schlug die Milch, als wollte sie Butter machen, servierte ihm dann seinen Kaffee.
»Hier, bitte, Ihr Schaumkaffee und das Ei. Wollen Sie wirklich die alten Geschichten hören?«, fragte Frau Ella, nachdem sie sich gesetzt hatte.
»Unbedingt.«
»Das ist ja nun doch eine Weile her. Ich wäre damals gern auf dem Land geblieben, aber meine Eltern haben mich in die Stadt geschickt, auf eine Schule für Haushälterinnen, vierunddreißig war das. Ich kann Ihnen sagen, schön war das nicht, weg vom Hof, von den Freundinnen und der Wirtschaft. Wir lebten ja nicht vom Hof allein, sondern auch von unserem Ausschank, und trotzdem meinte mein Vater, dass uns das nicht mehr lange über Wasser halten würde. Dann bin ich also in die Stadt zu dieser Schule, ein Gefängnis war das, das können Sie mir glauben. Wie lange ging das so? Ein paar Monate, vielleicht ein halbes Jahr, wenn nicht noch länger, dann kam ich zu meiner ersten Familie. Ganz feine Leute waren das, die Wasserburgs, meine Güte! Regelrecht piekfein! Wir hatten zwar eine ganze Menge gelernt, aber ich als Bauernmädchen bei so feinen Leuten, meine Güte, das war vielleicht was. Die Dame hatte ja nichts anderes zu schaffen, als mich zu kontrollieren, von früh bis spät hinter mir her durchs Haus und immer mit dem Finger über dieses oder jenes Möbelstück, und wehe, wenn da Staub war. Nur wenn er mir an die Wäsche wollte, schaute sie plötzlich weg, als gäbe es mich gar nicht. Und, wie ist das Ei? Nun machen Sie schon!«
Das hatte er ganz vergessen. Er nahm das Messer und schlug vorsichtig zu, genau so hoch, um den Dotter gerade eben anzuschneiden und schon an den Spuren des Eigelbs auf dem Messer zu erkennen, ob das Ei gut war oder nicht. Es war perfekt.
»Sehr gut!«, sagte er beeindruckt. »Sie haben gewonnen.«
»Ach was. Na ja, jedenfalls konnte das nicht lange gutgehen mit dieser Hexe, aber erst nach genau fünf Monaten und zwei Wochen hatte das Schicksal ein Einsehen mit mir und führte mich zu den Karstens. Dem Herrn war ich am freien Tag im Park begegnet. Ja, einen pro Monat hatte ich. Und denken Sie jetzt bloß nichts Falsches! So überraschend das auch war, wir kamen einfach ins Gespräch, am Brunnen, wo die Kinder ihre Segelboote fahren ließen. Ein traumhafter Frühlingstag war das. Ja, genau fünf Monate und zwei Wochen, das weiß ich noch. Angefangen bei den Wasserburgs habe ich zum Oktober, dann den ganzen Winter in diesem schrecklich kalten Haus gefroren und am vierzehnten März war mein erster Tag bei den Karstens, das war Erichs Geburtstag, deswegen erinnere ich mich. Erich war der Kleinste, ganz dunkel und still mit seinen strahlenden Augen. Das waren dann großartige Jahre mit den Kindern und die Frau Karstens am Klavier und all die verrückten Gäste, bis der Herr mich im Sommer vierzig zurück zu meinen Eltern geschickt hat. Von selbst wäre ich ja nie gegangen. Niemals. Tja, und dann war Krieg, von den Karstens habe ich nichts mehr gehört, und am Ende war Stanislaw bei uns auf dem Hof im Notquartier, das kann man sich heute ja gar nicht mehr vorstellen. Sommer siebenundvierzig haben wir geheiratet unter der Bedingung, dass wir wieder in die Stadt ziehen. Ich musste ohnehin weg von zu Hause. Das war mein einziger Wunsch. Und wie habe ich die Stadt dann geliebt, einfach herumzulaufen, Menschen und Geschäfte anzuschauen! Stanislaw hat zum Glück schnell Arbeit gefunden, wir haben uns eingerichtet, und ich habe
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