Frau Ella
Freier.«
»Eigentlich. Und als Freier. Das hab ich ja noch nie gehört.«
»In meinem Fall ist man als Freier eher passiv.«
»Aha«, sagte sie.
»Vergessen Sie’s. Freier heißt, dass man nicht angestellt ist, sondern immer nur arbeitet, wenn man gebraucht wird. Als freier Mitarbeiter. Dann rufen die mich an, und ich fahre zu den Menschen, die ich interviewen soll, hier in der Stadt oder sonst wo im ganzen Land.«
»So wie ein Wanderarbeiter. Ohne die hätten wir die Ernte früher nie rechtzeitig eingeholt. Das waren vielleicht Kerle! Eher wie Ihr Freund gestern, nicht so wie Sie.«
»Besten Dank«, sagte er.
Dann blubberte das Wasser, und Frau Ella widmete sich wieder der Kaffeemaschine, die sie von der Flamme nahm, auf die sie gleich darauf den kleinen Topf stellte. Sein zweiter kleiner Topf stand auf einer der hinteren Flammen, die sie erst jetzt entzündete. Dann ging sie aus der Küche. Das war ja mal ein Morgen, dachte er, da blieb ja kaum Zeit, sich Gedanken zu machen, da ging ja alles wie von selbst. Dann hörte er Musik aus der Stube.
»So«, sagte Frau Ella noch aus der Diele. »Dann zeigen Sie mir mal, dass das gestern kein Zufall war.«
»Wollen Sie mir nicht erst mal Ihre Methode vorführen?«
»Welche Methode?«
»Ihr Eier-Methode.«
»Ja, aber das ist doch keine Methode, das geht nach Gefühl. Außerdem werden sie bei mir immer angestochen.«
»Ich bin gespannt«, sagte er und durchwühlte die Schublade des Küchentischs. Irgendwo hatte er doch eine Nadel gehabt. Hoffte er, sie würde scheitern? Wollte er, dass seine Methode die richtige war? Das war mal eine spannende Frage, was es zu bedeuten hatte, wenn es zwei richtige Methoden gab, perfekte Eier zu kochen, wenn es genauso richtig wie falsch war, die Schale einzustechen, die Eier vor oder nach dem Erreichen des Siedepunktes ins Wasser zu legen. Eigentlich gab es keinen Grund, darüber zu streiten, wenn das Ergebnis stimmte. Man musste sich einfach für das eine oder das andere entscheiden. Ein Problem hatte man nur dann, wenn man sich eben nicht entscheiden konnte, wenn es zu viele Möglichkeiten gab, wenn das ganze Leben zum Supermarktregal wurde. Der Asiate, Herr Li, hatte genau eine Zahnbürste im Angebot, und anscheinend war Frau Ella mit der gut zurechtgekommen. Was, wenn er gestern mehrere Bürsten zur Wahl gehabt hätte? Wer hätte ihn beraten, welche Zahnbürste die richtige für eine Frau in diesem Alter war? Vielleicht gab es ja schon ein Gütesiegel für Produkte, die den Anforderungen des Alters besonders gerecht wurden. Den Grauen Engel. Letztlich hatte Frau Ellas Mann vielleicht recht, und man sollte die Auswahl dem Ladenbesitzer überlassen. Der kannte sich schließlich am besten aus. Andererseits gab es diese Menschen, die niemals davon abrücken würden, dass ihre Wohnung nur mit diesem oder jenem Putzmittel sauber zu kriegen war, so wie Frau Ella an ihre Eier-Methode glaubte. Und er an seine. Konnte man das wirklich vergleichen? Endlich fand er die eine Nadel, die er besaß, und reichte sie Frau Ella über den Tisch.
»Nicht dass Sie denken, ich würde Ihre Methode nicht schätzen«, lächelte sie. »Die Eier waren exzellent.«
»Ach was«, sagte er. »Ein bisschen Wettbewerb muss sein.«
Er betrachtete sie von hinten, musste lächeln, spürte, wie sein Auge feucht wurde, und fragte sich, was jetzt das andere Auge machte. Vielleicht hatten sie bei der Operation die Tränendrüsen stillgelegt, und er würde auch in Zukunft nur noch mit einem Auge weinen können. Was war überhaupt mit dem Auge? Sah er schwarz oder sah er nichts? Er hielt eine Hand vor das gesunde Auge und verglich, was er sah. Er musste Frau Ella fragen, wie es bei ihr war. Er war sich nicht sicher, ob er schwarz oder nichts sah. Was war das überhaupt für ein Gefühl, das er bei ihrem Anblick empfand? Fast hätte man es für Heimweh halten können, nur war Heimweh doch das Vermissen von etwas, das man einmal gehabt hatte. Und er, Sascha Hanke, hatte definitiv noch nie in seinem Leben einer alten Frau beim Eierkochen zugesehen. Natürlich ging sie ihm auf die Nerven, wie sie immer alles richtig machte, ihm mit ihrem Arsenal von acht Jahrzehnten Lebenserfahrung zu verstehen gab, dass er in Sachen Haushalt gar nichts verstand. Der Gedanke daran, dass sie bald verschwinden, ihn allein in seiner Wohnung zurücklassen würde, gefiel ihm trotzdem nicht. Es war schön, dass da jemand war, der seine Eier anders kochte, Frau Ella, die so vieles dadurch
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