Frau Ella
gedacht, dass das auch für einzelne Menschen galt. Diese ganze Energie war also nur deshalb gut, weil er eben Glück gehabt hatte, dass ihm ausgerechnet Frau Ella begegnet war. Nur hieße das ja, es war reiner Zufall, dass die frühen Christen als heldenhafte Verfolgte in ihren Höhlen landeten und andere als geschlagene Kämpfer verachtenswerter Armeen. Nein, irgendwie hatte er da mit entschieden, wenn er auch nicht wusste, wo. Schicksal. Schicksal war nur ein anderes Wort für dieses Nichtverstehen, wenn man keine Lust mehr hatte nachzudenken. So wie er jetzt, in den letzten Sonnenstrahlen mit seinem kühlen Bier in der Hand und dem lauten Lachen der Frauen im Treppenhaus. Es war an der Zeit weiterzuleben, dachte er und sprang vom Küchentisch, um die beiden zu begrüßen.
»Hey Saatschi«, strahlte Lina und fiel ihm um den Hals.
»Hallo, mein Junge«, sagte Frau Ella. »Da haben Sie sich ja einen Engel geangelt.«
»Guten Abend Schicksal«, grinste Sascha und lotste die beiden vollbepackten Frauen erst einmal in die Küche.
»Wir haben auch bei Herrn Li meine Schulden bezahlt«, sagte Frau Ella, kaum dass sie sich gesetzt hatte.
»Das hätte ich doch schon längst erledigen können, Frau Ella!«
»Sie sind schon mein Retter und Gastgeber, da werde ich mir doch nicht auch noch Geld von Ihnen leihen.«
»Auf jeden Fall hat er sich voll gefreut«, sagte Lina. »Dem hat Frau Ella ordentlich den Kopf verdreht.«
»Herrn Li?«, fragte Sascha, der einen vielleicht vierzigjährigen Familienvater vor Augen hatte, der zwar immer freundlich, nie aber allzu interessiert an Abenteuern mit Neunzigjährigen gewirkt hatte.
»Quatsch, der Vater natürlich«, sagte Lina.
»Jetzt hören Sie aber auf, Lina! Man wird doch wohl auch heute noch höflich zu seinen Kunden sein dürfen!«
»Und wie geht’s dem Kind? War das nicht krank?«, fragte Sascha.
»Alles wieder gut«, sagte Frau Ella. »Und jetzt genug geplaudert, sonst kommen wir heute nicht mehr zum Essen. Ich hoffe, Sie haben Appetit auf einen Krustenbraten.«
»Klar, aber seit wann isst du Fleisch, Lina?«
»Na ja, als Mutter darf man doch nicht zu dünnblütig sein, oder?«
»Als Mutter?«
»Also theoretisch und langfristig, meine ich, als potentielle Mutter. Frau Ella sagt, dass man da nicht zu früh anfangen kann, auf sich aufzupassen.«
»Schließlich sollen Sie keine schwachen Kinder kriegen. Die haben doch nur Ärger im Leben.«
»Kinder kriegen?«, fragte Sascha und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie ihn überrumpelt hatten. Gingen sie nicht ein bisschen zu schnell zu weit?
»Irgendwann halt«, sagte Lina. »Jetzt guck doch nicht so. Das ist ja wohl das Normalste, was es gibt. Frau Ella sagt, dass ich bloß aufpassen soll.«
»Sonst endet sie noch wie ich und muss im Alter bei wildfremden Männern unterkriechen.«
»Vielleicht trinken wir erst mal einen Schluck, wenn du noch darfst«, versuchte er, Land zu gewinnen.
»Sehr witzig«, sagte Lina. »Aber ich habe Frau Ella schon gesagt, dass du auch nichts mehr trinkst, wenn es so weit ist.«
»Ich hoffe, ihr habt auch schon einen Namen«, sagte er, während er drei Sektgläser mit Bier füllte.
»Carlos oder Carla«, sagte Lina ernst.
»Na, dann kann ja nichts mehr schiefgehen.«
So war das also, wenn man mal die Zügel aus der Hand gab.
Frau Ella stand mittlerweile an der Spüle, wusch und schnippelte Gemüse, massierte ein gigantisches Stück Fleisch selbstvergessen wie eine Künstlerin. Lina verabschiedete sich unter die Dusche, als wäre das vollkommen normal. Sie war unglaublich, als hätte sie einfach einen Schalter umgelegt und ihre Beziehung, ihre Liebe von einem Moment auf den anderen wieder zum Leuchten gebracht. Das Schlimme war, dass ihre Sachen noch im Bad standen, ihre Unterwäsche in seinem Schrank lag, als sei auch er immer davon ausgegangen, dass sie ohnehin zurückkehren würde, er, der doch längst mit ihr abgeschlossen hatte. Immerhin waren in den nächsten Minuten keine weiteren Zukunftspläne zu befürchten. Eigentlich war ja auch alles geklärt, abgesehen davon, dass er eines Tages sicher ein bisschen mehr verdienen musste. Aber darauf war er schließlich vorbereitet.
»Sagen Sie, Frau Ella«, setzte er an. »Hätten Sie Lust, zusammen mit mir so eine Art Pension aufzumachen?«
»Was sind denn das wieder für Ideen, mein Junge. Gestern wollten Sie noch Friseur werden.«
»Sie wollten, dass ich Friseur werde.«
»Haben Sie etwas gesagt?«
Das war wohl
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