Frau Ella
zurück, schloss die Tür, hastete mit großen Schritten und umso schlimmeren Schmerzen zurück zum Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Aber jetzt hörte sie alles, und je lauter das Mädchen im Nebenzimmer stöhnte, desto klarer sah Frau Ella, dass sie hier nichts zu suchen hatte. Alles war ein Missverständnis, die ganzen letzten Tage, die seltsamen Kleider, die sie getragen hatte, der ganze Alkohol, die Zigaretten. Für wen hielt sie sich denn? Das war nicht ihre Welt. Sie hatten nur Theater gespielt, sich amüsiert, ihr einen Gefallen tun wollen. Wie deutlich das alles war! Sie fühlte Erleichterung, als habe sich etwas gelöst, sogar ihr Rücken schmerzte plötzlich nicht mehr so stark. Nein, sie war nicht traurig, sie war dankbar für die Tage, aber es war trotzdem falsch gewesen, Jung und Alt in einen Topf zu werfen, als gebe es keine Unterschiede. Sie hätte es besser wissen, alles früher zu einem schönen Ende bringen müssen. Was in der Stube passierte, das ging sie nichts an. Sicherlich hatte alles seine Richtigkeit, nur sie hatte hier nichts verloren. Die beiden hatten sich wiedergefunden, sie gehörten zusammen und würden ihren Weg gehen, auch ohne die Ratschläge einer alten Frau. Und doch spürte sie bei jedem Stöhnen, das zu ihr unter die Bettdecke drang, ein schmerzhaftes Gefühl in sich, das sie fast aufschluchzen ließ. Das Gefühl, etwas verloren zu haben. Für immer. Zum ersten Mal meinte sie zu verstehen, was es bedeutete, selbst einmal sterben zu müssen.
Als die beiden endlich zur Ruhe kamen, wartete Frau Ella noch eine Weile, dann stand sie auf, öffnete vorsichtig die Tür, schlich vorbei an den engumschlungenen Liebenden durch die Stube und in die Diele und schloss die Tür hinter sich. Das war der Lauf der Dinge, dachte sie. Wie dumm sie gewesen war. Vorsichtig legte sie den Riegel der Wohnungstür um, öffnete diese gerade so weit, dass sie hindurchpasste, und zog sie hinter sich leise ins Schloss. Auch wenn die Schmerzen nachgelassen hatten, fiel es ihr nicht leicht, die Treppen hinunterzusteigen, doch sie wusste, dass das der Weg war, den sie gehen musste.
Auf der Straße war sie überrascht, wie kühl es nachts noch wurde. Sie musste sich bewegen, dann würde sie schon bis zum Morgen durchhalten. Dann konnte sie endlich zurück ins Krankenhaus. Gegenüber im Laden von Herrn Li brannte noch Licht. Oder war es schon so spät, dass er bereits die Waren für den Vormittag sortierte? Mitten in der Nacht? Erst jetzt sah sie auch die Leuchtschrift über dem Geschäft. Dort hatte sie sich wohl gefühlt, ausgerechnet bei den Ausländern, deren Leben sie seltsamerweise viel besser verstehen konnte. Die harte Arbeit, die Sorge um die Kinder, die Höflichkeit. Sie rieb sich die kalten Hände und wandte sich ab. Sie musste sich bewegen. Irgendwie würde sie zum Krankenhaus finden. Sonst konnte sie immer noch jemanden fragen. Am Morgen. Wenn es hell würde. Sie brauchte nur endlich ihre eigenen Sachen. Dann konnte sie zurück in ihre Wohnung. In ihr Leben.
Wie dumm sie gewesen war! Keinem anderen konnte sie die Schuld geben, nicht dem Blumenhändler, nicht dem Herrn Doktor, nicht dem Krankenhaus und schon gar nicht den jungen Menschen. Nur sie selbst war zu schwach gewesen, um sich durchzusetzen, einfach so weiterzuleben, wie sie es die letzten Jahre getan hatte. Plötzlich spürte sie, wie eine panische Angst Besitz von ihr ergriff. Und wenn sie nie wieder zurückkehren würde in ihr eigenes Leben? Wenn sie ihr kleines Glück ohne Not zerstört hätte und jetzt alles so unschön zu Ende ginge? Weil sie mehr gewollt hatte, als ihr zustand.
Nein, alles gute Essen, alle schönen Kleider, alle netten Gespräche waren es nicht wert, nachts alleine durch die Stadt laufen zu müssen, ohne zu wissen, wann endlich die Sonne aufgehen würde.
Sie schleppte sich immer weiter, Füße und Waden taub vor Kälte, im Rücken wieder der stechende Schmerz. Wenn sie jetzt hinfiel, würde sie einfach liegen bleiben. Die Stadt war vollkommen leer. Niemand wäre da, um ihr aufzuhelfen. Sie würde einfach einschlafen und nicht mehr aufwachen. Noch nie hatte sie die Welt zu dieser Stunde gesehen. Sie hatte gehofft, dass der Tod anders kommen würde. Nicht so unerwartet. Nicht in der Fremde. Doch sie musste sich zusammenreißen, nicht schon wieder an den Tod denken, nur weil sie eine dumme Entscheidung getroffen hatte. Sie würde doch wohl eine Nacht im Freien überleben, auch wenn es jetzt noch kühler
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