Frau Ella
Und jetzt hörte sie ihn, roch den Duft des Bauernhofes. Nur fühlte sie nichts. Sie hörte, sie roch, sie meinte zu atmen, aber da war kein Schmerz mehr. Nichts. Frau Ella erinnerte sich daran, dass sie zuletzt gewusst hatte, alles würde gut, alles hatte seine Richtigkeit, sogar ihr nächtlicher Gang in den Wald. In Gedanken lächelte sie, als sie an Sascha dachte, und an seine Lina. Wie unsinnig, dass sie so plötzlich aufgebrochen war. Doch auch das hatte sicherlich seinen Sinn. Hauptsache, sie machten sich keine Sorgen. Gerne hätte sie ihnen gesagt, dass es ihr gutging, hier, in dieser neuen Welt, in der man roch und hörte, ohne dass der lästige Körper störte.
»Bist du ein Gespenst?«, hörte sie ganz in ihrer Nähe ein Kind fragen.
»Wie bitte?«, krächzte sie und erkannte kaum ihre eigene Stimme. Sie war also doch noch da. Dann würden auch die Schmerzen nicht lange auf sich warten lassen. Dann musste sie jetzt ihr Auge öffnen.
Frau Ella sah das Gesicht eines kleinen Mädchens direkt vor sich. Sie selbst musste also sitzen, und tatsächlich erkannte sie schnell die Bank, auf der sie sich kurz hatte ausruhen wollen. Von wegen neue Welt! Sie war wohl einfach eingeschlafen, und ihr Körper war noch immer nicht wieder aufgewacht. Vielleicht wegen der Kälte.
»Ich glaube, du bist ein Gespenst«, sagte das Mädchen. »Ein Oma-Gespenst.«
»Quatsch. Ich bin die Frau Ella. Aber wo bin ich denn hier gelandet?«
Sie sah sich um, dachte doch wieder, ganz woanders zu sein oder zu träumen, da sie gleich hinter dem Mädchen einen Misthaufen sah, auf dessen Spitze ein weiß gefiedert in der Morgensonne strahlender Hahn thronte.
»Kommst du etwa aus dem Himmel?«
»Unsinn. Ich glaube, ich habe mich verlaufen. Wohnst du auf dem Bauernhof hier?«
»Nee«, sagte das Mädchen. »Das ist doch der Kinderbauernhof.«
»Aha«, sagte Frau Ella. Auch die Wirklichkeit war komplizierter, als sie gedacht hatte, doch ein erstes brennendes Stechen im Kreuz zeigte ihr, dass einiges beim Alten geblieben war.
»Und der Hahn da, ist das Bismarck?«
»Nee, das ist doch Napoleong!«
»Aha. Natürlich. Warum sollte das auch Bismarck sein.«
Das Mädchen sah sie noch immer skeptisch an, und langsam wurde Frau Ella klar, dass sie, einäugig, mit zerzaustem Haar und im Nachthemd, wirklich eine seltsame Gestalt abgeben musste, zumal für so ein kleines Mädchen. Nur, was sollte sie tun?
»Du?«, fragte das Mädchen.
»Ja.«
»Warum sagst du denn immer Aha?«
»Weil ich mich doch immer wieder wundern muss.«
»Aha«, versuchte das Mädchen, sie nachzumachen.
»Genau.«
»Das ist lustig. Soll ich dir die Frauen vom Napoleong zeigen?«
»Gerne. Aber vielleicht musst du mir ein bisschen beim Aufstehen helfen.«
»Klar«, sagte das Mädchen und streckte ihr die Hand entgegen. »Du bist ganz schön alt, oder?«
»Immerhin aber noch kein Gespenst«, lachte Frau Ella.
»Ich mag Gespenster«, sagte das Mädchen. »Aber du bist auch nett.«
»Das freut mich. Dann also auf zu den Hühnern!«
Das Mädchen nahm Frau Ella bei der Hand und führte sie in Richtung des Bauernhofes. Sie waren tatsächlich nicht auf dem Land. Durch die Bäume hindurch sah Frau Ella eine Straße, Häuser, parkende Autos. Es gab hier also wirklich einen Bauernhof mitten in der Stadt. Sie versuchte, sich zu erinnern, wie weit sie sich von Saschas Haus entfernt hatte, doch war das letztlich ohne Bedeutung. Sie würde sowieso nie mehr dorthin zurückkehren.
»Du, Frau Ella?«, fragte das Mädchen. »Musst du vielleicht bald sterben?«
»Vorhin dachte ich, ich hätte es schon geschafft.«
»Was?«
»Na, das mit dem Sterben.«
»Vielleicht hast du ja richtig gedacht. Dann bist du doch ein Gespenst. Auf jeden Fall siehst du so aus.«
»Allerbesten Dank!«, lachte Frau Ella. »Haben Gespenster denn Rückenschmerzen?«
Das Mädchen blieb stehen und sah nachdenklich zu ihr hoch.
»Immer haben alle Rückenschmerzen. Kostas hat auch immer Rückenschmerzen.«
»Kostas?«, fragte Frau Ella.
»Das ist der Bauer. Aha!«
Der Bauernhof hatte weitaus mehr zu bieten als diesen wunderschönen Hahn und seine Hennen. Schweine suhlten sich glücklich in ihrem Schlammloch, im Halbdunkel eines Stalls sah Frau Ella zwei Stück Vieh, verborgen von Sträuchern meckerte eine Ziege, und, sie traute ihrem Auge kaum, gleich neben dem Misthaufen stand sogar ein alter Esel.
»Wen bringst du denn da mit, Bobulina?«, hörte sie eine Männerstimme mit starkem ausländischem
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