Frau Ella
Weißweinschorle zu genießen. Es war fast Mittag, und die Sonne wärmte, ohne zu stechen. Was für ein Tag das hätte sein können! Was für ein Leben, wäre es ein anderes gewesen. Verdammt, sie mussten endlich Frau Ella finden. Das konnte doch nicht wahr sein, dass eine alte Frau barfüßig und mit nichts als ihrem Nachthemd bekleidet durch die Stadt irrte, ohne von irgendjemandem bemerkt zu werden! Was war denn das für eine Welt, in der alle immer nur an sich dachten und wegguckten, sobald ihre Hilfe gebraucht wurde? Die Menschen, die Sascha fragte, sahen ihn an, als stünde er selbst im Nachthemd vor ihnen, als sei das vollkommen absurd, dass man eine alte Frau suchte. Und letztlich war es ja auch einfach nicht vorgesehen, dass so etwas passierte.
»Entschuldigen Sie!«, versuchte er es trotzdem noch einmal, diesmal bei einem dieser mittelalten Männer, die in grauer Abenteurerweste und kurzen Hosen mit halbgetönten Brillen auf Baumarkt-Fahrrädern durch den Park rollten, ein Radio an den Lenker montiert, das die Umgebung mit Schlagertönen verwöhnte.
»Was gibt’s denn, junger Mann?«
»Haben Sie vielleicht eine ältere Dame im Nachthemd gesehen?«
»So weit kommt’s noch«, sagte der Radfahrer zackig. »Das ist eine städtische Grünanlage. Da läuft man nicht im Nachthemd herum.«
»Sie haben sie also nicht gesehen?«
»Noch nicht, junger Mann. Noch nicht. Aber wenn sie noch im Park ist, werde ich sie schon finden. Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Ich bin schon mit ganz anderen Frauen zurechtgekommen. Dann beschreiben Sie mal die Gesuchte.«
Erleichtert spürte Sascha, wie Klaus ihn wegzog von dem Irren, der jetzt Feldstecher und Notizblock aus seiner Fahrradtasche kramte und einen Bleistift zückte.
»Lassen Sie gut sein«, sagte Klaus. »Wir wollten nur testen, ob man sich noch auf seine Mitmenschen verlassen kann.«
Sie ließen ihn mit seinem Fahrrad einfach stehen. Das hatte noch gefehlt, dass sie die Bürgerwehr auf Frau Ella hetzten. Als hätten sie nicht schon genug damit angestellt, die hilflose Frau diesen Monstern auszuliefern. Jeder Blick gab ihm vorwurfsvoll zu verstehen, dass er seine Alte doch bitte in irgendeinem Heim sicher unterbringen sollte, dass das doch nicht ging, so eine ganz alleine auf der Straße. Wie sollte man da denn in Ruhe einkaufen?
Je mehr alte Menschen Sascha gelangweilt an der Seite irgendeiner sicherlich bestens geschulten Begleitperson herumlaufen sah, desto sicherer war er, dass er Frau Ella eigentlich doch einen Gefallen getan hatte. Ihm war einfach ein kleiner Fehler unterlaufen, und jetzt hatten sie den Ärger, und zwar beide. Sie, die verwirrt durch die Stadt irrte, und er, der sie suchen musste. Und dazu diese lächerlich vorwurfsvollen Blicke von Klaus, als sei das so unfassbar, was er gemacht hatte. Klaus hatte gut reden. Er hatte schließlich die Edelboutique anstelle des Krankenhauses angesteuert und auch sonst alles getan, um Frau Ella davon abzuhalten, nach Hause zu gehen. Klaus ließ sich gerne amüsieren und sah gar nicht, wer die wirkliche Last bei der ganzen Geschichte trug. Und jetzt machte ausgerechnet der ihm Vorwürfe! Nachdem er Lina doch überhaupt erst wieder ins Spiel gebracht hatte.
»Scheiße, so finden wir die nie!«, stöhnte Klaus.
»Vielleicht will sie ja gar nicht gefunden werden.«
»Fängst du jetzt wieder mit deiner Nachtwanderung an, oder was?«
»Mann, Klaus, komm mal runter von deinem edlen Schimmel. Wie kommst du überhaupt auf die Idee, dass du so genau weißt, was hier richtig und was falsch ist?«
»Was ist denn jetzt los?«
»Nix ist los! Ich hab nur keine Lust mehr auf diese selbstgerechte Fresse, die du hier ziehst, als hätte ich gerade was weiß ich für ein Verbrechen begangen. Wenn ich ein schlechtes Gewissen brauche, kann ich auch in die Kirche gehen. Man wird ja wohl noch mal bumsen dürfen, ohne dass die Welt gleich untergeht!«
Jetzt sah auch Klaus ihn an, als sei er bescheuert. Begriff denn niemand außer ihm selbst, dass die Welt irgendwie auf der falschen Bahn unterwegs war? Ja, das war also das Gefühl, wenn man als Einziger die Wahrheit kannte. Er war ein Sehender unter Blinden.
Klaus zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. Sie gingen schweigend weiter. Links und rechts des Weges wurden die ersten Grills angefacht, Großfamilien machten es sich auf Decken bequem, Kinder und Greise lachten gleichermaßen zahnlos. Für die Alten hatten sie Campingstühle mitgebracht. So konnte das auch
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