Frau Ella
Teil richtig heilig heute. So wie die Kühe in Indien, also zumindest dann, wenn man so richtig Unsinn mit ihnen anstellt. Dass man sie in Wirklichkeit hinter verschlossenen Türen vergammeln lässt, tut da gar nichts zur Sache. Da geht’s um die Außenwirkung. Jedenfalls kannst du die nicht einfach so entführen und dann suchen lassen.«
»Ja, aber ich hab doch die Verantwortung!«
»Gar nichts hast du. Die Frau ist seit Jahrzehnten erwachsen.«
»Du siehst das ja ganz schön trocken«, sagte Sascha, der sich etwas beruhigte, so sicher schien sich Klaus seiner Sache zu sein, Klaus, der, kaum dass Sascha ihn angerufen hatte, auch schon vor der Tür stand, um ihm zu helfen. Vielleicht hatte er ja doch ein bisschen überreagiert mit seiner Panik.
»Das ist sozusagen meine Vernunft«, sagte Klaus kühl. »So denke ich. Andererseits, also quasi emotional, hasse ich dich von ganzem Herzen für diesen Scheiß, den du mit Frau Ella veranstaltet hast. Und denk nicht, dass wir uns noch kennen, wenn wir sie nicht komplett intakt wiederfinden! Du bist echt nicht immer der netteste aller Freunde, aber verdammt, Sascha, das war die geilste Frau, die mir je begegnet ist, und du hast nichts Besseres zu tun, als ihr eine private Pornovorstellung mit deiner Tussi zu geben. Ich meine, denkst du manchmal eigentlich auch nach? Oder faselst du immer nur diesen Stuss von wegen Verantwortung und drehst dich eigentlich doch nur um dich selbst?«
»Mann, Klaus, ich will sie doch auch wiederfinden! Sollten wir nicht anonym in den Krankenhäusern anrufen?«
»Später. Erst mal müssen wir hoffen, dass sie in den paar Stunden noch nicht allzu weit gekommen ist. Wie ich dich einschätze, habt ihr ja sicher bis zum Morgengrauen Spaß gehabt.«
»Mann, Klaus, es reicht. Es tut mir ja auch leid!«
»Davon kommt sie auch nicht wieder. Ich hätte dich einfach nie mit ihr allein lassen dürfen.«
Da musste er jetzt durch, denn er wusste, dass Klaus recht hatte, auch wenn er ihm nicht ganz folgen konnte, mit seiner Vernunft und seinen Emotionen.
Der Versuch, die Verantwortung für die ganze Katastrophe bei Lina abzuladen, war noch am Küchentisch gescheitert. Er konnte zwar nicht darüber nachdenken, ob er Lina Unrecht getan hatte oder nicht, sah aber doch ein, dass für Frau Ellas Flucht nur er selbst verantwortlich war. Einer Frau für ein oder zwei Tage Asyl zu gewähren war die eine Sache, bei der man sich sogar verbitten konnte, dass sie sich allzu blöd benahm. Aber eine ältere Dame dazu aufzufordern, länger zu Besuch zu bleiben, mit ihr in die Vergangenheit zu reisen, mit ihr auf die Liebe anzustoßen und so weiter und was sie nicht sonst noch alles getan hatten, das war etwas völlig anderes. Das konnte man nicht einfach wieder abstellen. Das war plötzlich überhaupt nicht mehr beliebig. Darüber hätte er sich eigentlich gerne gefreut, nur hatte er jetzt alles verbockt.
»Sag mal, kannst du dir vorstellen, dass sie im Stadtpark ist?«, fragte Klaus.
»Im Nachthemd?«
»Meinst du, das ist bescheuerter im Stadtpark als in der Fußgängerzone?«
»Nee, Quatsch, schon gut. Vielleicht.«
»Was denkst du denn, wo sie wohl hinwollte?«
»Keine Ahnung. Einfach raus wahrscheinlich. Vielleicht wollte sie ja nur kurz vor die Tür, bis das vorbei war.«
»Mitten in der Nacht.«
»Na ja, vielleicht war das so ’ne Art Überreaktion. Ich meine, letztlich ist sie ja auch eine Frau, oder?«
»Du meinst also, sie hatte nur so einen Emotionalen und einfach Lust auf eine Nachtwanderung.«
»Und dann hat sie sich verlaufen.«
»Sag mal, Alter, hat dir die Tussi das Gehirn weggeblasen, oder was? Da läuft gerade eine total hilfsbedürftige, wahrscheinlich sogar geistig vollkommen verwirrte Frau durch die Stadt, die zumindest ich verdammt gerne mag, und du erzählst mir, die macht ’ne Nachwanderung! Kapierst du mal endlich, dass das hier kein Spiel ist?«
»Ich hab gesagt, dass das sein könnte! Aber dann fahr halt zum Stadtpark. Vielleicht haben wir ja Glück.«
17
SIE HÖRTE DEN HAHN KRÄHEN wie einen alten Bekannten in einer neuen Welt. Einen uralten Bekannten. Bismarck, der stolze Hahn ihrer Eltern, an dem auf ihrem Hof kein Weg vorbeiführte. Ihr bester Freund für viele Jahre. Ihr Beschützer, der sie in seinem Revier nicht nur geduldet, sondern sie bevorzugt behandelt hatte. In seiner Obhut verbrachte sie als kleines Kind ganze Tage. So sicher hatte sie sich nie wieder gefühlt. Bismarck. Wie hatte sie den vergessen können?
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