Frau Holle ist tot
die
Lamas grasten, in einer Felsenkuhle, die von Büschen verdeckt war. Er schaute
durch das Fernglas, das ihm Mama vor drei Jahren zu seinem Geburtstag geschenkt
hatte.
Basti hatte viel Zeit. Er konnte sich an alles ganz
genau erinnern. Vor einer Woche hatte er im Baumhaus gesessen und Frau Holles
Haus beobachtet. Er hatte darauf gewartet, dass die Polizei käme. Er hatte sie
nämlich angerufen, nachdem er Frau Holle so schön hergerichtet hatte. Aber die
Polizei war nicht gekommen, den ganzen Tag nicht.
Das war auch gut so gewesen, sonst hätte er abends
nicht die Königstochter gefunden, die im Anbau von Frau Holles Haus
eingeschlafen war. Vielleicht könnte er sich das Mädchen heute Abend wieder
holen, überlegte er. Er würde schön aufpassen, dass dem Vögelchen nichts
passierte. Er erinnerte sich an den Streit mit Kevin, an den Streit mit Fromm
und an den bösen Mann in der Bachmühle.
Immer wieder kamen Wanderer vorbei, Familien mit
Kindern, die die Lamas bestaunten. Basti aß seinen Proviant: Nussbrot,
Presskopf und Hollersaft.
Es schmeckt nichts besser, als was
man selber isst.
Da kam sie. Marie betrat den Platz vor dem Stall.
Basti knirschte mit den Zähnen. Sie war nicht allein. Eine junge Frau und ein
alter Mann liefen neben ihr und redeten auf sie ein. Basti ballte die Fäuste.
Siehst du, so geht’s in der Welt.
Die drei machten sich im Stall und auf den Weiden zu
schaffen. Bastis Fernglas hatte eine starke Vergrößerung. Mit ihm konnte er
Marie ganz aus der Nähe betrachten. Er erkannte sogar ihre Sommersprossen.
Natürlich nicht alle hundertsiebenundvierzig, aber einige davon. Erst lief sie
mit ihrem Handy durch die Gegend und telefonierte, oder versuchte zu
telefonieren. Dann ging sie auf die Weide und bürstete einige Lamas.
Anschließend ging sie zurück zu den Ställen und redete mit dem anderen Mädchen.
Stunden später, die Schatten wurden schon länger,
bemerkte Basti, dass er nicht der Einzige war, der die Kisselmühle beobachtete.
Ein Mann kam durch das Unterholz, ein paar hundert Meter weiter talwärts. Er
hatte Basti nicht bemerkt, denn Basti kannte sich aus mit dem Verstecken im
Wald. In seiner Felskuhle war er so gut wie unsichtbar. Der Mann hatte auch ein
Fernglas dabei, und er suchte sich einen Platz, von dem aus er die Häuser und
die Ställe beobachten konnte.
Er stand da … wie einer, der Böses
im Sinne hat.
***
Auf der Rückfahrt von Johannisberg hatte Mayfeld
in der Bornstraße in Oestrich haltgemacht und Irene Mertens über den Tod ihres
Mannes informiert, sein Beileid ausgesprochen und die Witwe gebeten, den
Leichnam ihres Mannes am nächsten Tag im Südfriedhof in Wiesbaden zu
identifizieren. Auf die Frage, ob es jemanden gebe, der jetzt bei ihr sein
könnte, war Frau Mertens kollabiert, und Mayfeld musste den Notarzt rufen. Der
war wenige Minuten später vor Ort.
Während sich der Arzt und zwei Sanitäter um die Patientin
kümmerten, begab sich Mayfeld auf die Suche nach Alina und Janine. Er fand sie
verschüchtert in ihrem abgedunkelten Kinderzimmer. Der Notarzt wollte Irene
Mertens am liebsten zur Beobachtung ins Krankenhaus mitnehmen, aber nachdem sie
wieder auf den Beinen und halbwegs bei Kräften war, lehnte sie dies rundweg ab.
Sie ging zu ihren Kindern und bedachte Mayfeld mit einem Blick, als ob er
gerade versucht habe, ihr diese zu rauben, verbat sich jede weitere Hilfe oder
Einmischung und komplimentierte Arzt, Sanitäter und Polizeikommissar nach
draußen.
Mayfeld fuhr weiter nach Eltville. Seinen Volvo
stellte er vor dem eigenen Zuhause ab und ging die kurze Strecke zu
Hochstätters Villa zu Fuß.
Hochstätter öffnete selbst die Eingangstür. Er trug
robuste Kleidung, so als ob er eine Wanderung vorhätte oder von einer solchen
gerade nach Hause gekommen wäre. Er führte Mayfeld in den Besprechungsraum mit
den kastanienbraunen Ledersesseln und dem traumhaften Blick über den Rhein. Wie
beim letzten Besuch stellte er Gläser und eine Flasche Mineralwasser auf den
Tisch.
»Ich bin überrascht, Sie so schnell wiederzusehen, und
das auch noch am Wochenende«, sagte er zu Mayfeld.
Mayfeld berichtete, was in der Johannisberger Mühle
geschehen war.
»Das ist ja fürchterlich«, sagte Hochstätter mit
tonloser Stimme. Er schien aufrichtig entsetzt zu sein. Oder er war ein
überzeugender Schauspieler. Mayfeld war unsicher, wofür er sich entscheiden
sollte.
»Was hatte Mertens dort zu tun?«, fragte der
Kommissar.
»Mertens hatte die Aufgabe,
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