Frau Holle ist tot
Worte.
»Lackauf versucht, mir den Fall zu entziehen.« Er
berichtete Julia, wie er mit dem Staatsanwalt am Tag zuvor aneinandergeraten
war und was ihm Burkhard über Lackaufs Absichten gesagt hatte.
»Ich bin manchmal ganz schön unmöglich«, antwortete
Julia. »Mach dir deinen Job madig. Erzähle dir, du sollst bei der Polizei
kürzertreten, während du mitten in Mordermittlungen steckst. Als Nächstes
erkläre ich dir noch, was für ein Idiot Lackauf ist, so als ob du das selbst
nicht am besten wüsstest. Du hast jetzt wirklich andere Sorgen. Hast du deinen
Vater erreicht? Was wirst du mit der kleinen Verrückten von gestern anfangen?
Was wollte Burkhard sonst noch von dir?«
Mayfeld atmete erleichtert auf. Julias Rat hatte ihm
schon oft weitergeholfen. Er berichtete von der DNA -Probe
und dem Verdacht gegen Mertens.
»Das heißt, ihr sucht mit dem Behinderten den
Falschen?«
»Im Licht der neuen Indizien: ja. Andererseits sind
die Indizien gegen ihn ebenfalls überwältigend. Auf irgendeine Weise steckt er
in der Sache mit drin. Vielleicht gibt es zwei Täter.«
»Ich hatte gleich den Eindruck, dass die Inszenierung
der beiden Leichenfunde von verschiedenen Personen stammt. In Hollers Fall von
einem detailverliebten Kenner der Grimm’schen Märchen, in Möllers Fall von
jemandem, der nur etwas andeuten will und der auch nur über eine oberflächliche
und fehlerhafte Kenntnis der Märchen verfügt. Du erinnerst dich, er hat ein
unpassendes Zitat gewählt.«
Natürlich erinnerte sich Mayfeld daran. »Gerade beim
Mord an Kevin Möller sprechen die Indizien allerdings eindeutig gegen Sebastian
Fromm. Und der ist der Märchenkenner.«
Julia lächelte ihn an. »Bin ich froh, dass ich
Psychologin und nicht Polizistin bin.« Dann wurde sie wieder ernst. »Worum es
wohl in dem Video geht?«
»Wahrscheinlich um ein Verbrechen. Möglicherweise sollte
jemand damit erpresst werden.«
Julia seufzte. »Mir ist schon klar, dass es nicht um
Urlaubserinnerungen geht. Zwei der Hauptpersonen in der Geschichte sind
traumatisierte Mädchen, möglicherweise sexuell traumatisierte Mädchen. Was ist,
wenn davon etwas auf den Videos zu sehen ist?«
»Du meinst Kinderpornografie?«
»Genau das meine ich.«
»Dazu würde passen, dass Annika gestern gesagt hat,
Holler habe das Jugendamt vor Mertens warnen wollen. Ich hole uns noch einen
Kaffee.«
Mayfeld ging in die Küche, drückte auf die
entsprechenden Knöpfe des Espressoautomaten und sah zu, wie die schwarzbraune
Flüssigkeit in die Tassen rann.
Kinderpornografie war eine Möglichkeit. War Mertens
dann der einzige Täter? Wie passte Sebastian Fromm in diese Theorie? Er öffnete
die Düse des Milchaufschäumers und jagte heißen Wasserdampf durch den
Milchtopf, goss den Milchschaum auf den Espresso, streute etwas Kakaopulver
darauf und kehrte zurück auf den Balkon.
»Wenn Mertens der Killer ist, dann ist Annika Möller
in Gefahr«, überlegte Julia. »Warum sollte Mertens ausgerechnet sie schonen?
Dann ist vielleicht auch dein Vater in Gefahr.«
Das war es, was ihn schon die ganze Zeit bedrückte.
Mayfelds Unruhe nahm zu.
»Ich kann ihn nicht erreichen. Er ist nicht zu Hause,
sein Handy ist ausgeschaltet, und ich habe keine Ahnung, wo er stecken könnte.
Möglicherweise ist Marie Lachner in noch viel größerer Gefahr, sie trägt
mittlerweile dieses Video mit sich herum. Du müsstest das Mädchen übrigens
kennen. Sie ist auf einem der Bilder, das Hilde in Kiedrich aufgehängt hat.«
»Im Ernst?« Julia stand auf und ging in die Wohnung.
Kurze Zeit später kam sie mit dem alten Fotoalbum, das die ganze Zeit auf dem
Wohnzimmertisch gelegen hatte, zurück. Sie blätterte darin. »Du meinst dieses
Bild? Davon habe ich meiner Mutter eine Kopie machen lassen.«
Sie zeigte Mayfeld die Fotografie. Der nickte. Julia
betrachtete das Bild lange. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Ich kann mich nicht erinnern. Sie ist keine enge
Freundin von Lisa gewesen. Zeig doch mal ein aktuelles Foto von Marie.«
Mayfeld hatte ein Foto in seinem Jackett. Er holte es
aus dem Wohnzimmer und gab es Julia. Die studierte es lange.
»Wäre ich nie drauf gekommen«, sagte sie, als sie es
ihm zurückgab. »Die hat sich ja total verändert. Und dann noch die gefärbten
Haare.«
Erstaunlich, dass Burkhard das Mädchen sofort erkannt
hatte. Kannte er sie besser? Aber warum hatte er dann nichts gesagt? Er musste
das den Kollegen in der nächsten Woche unbedingt fragen.
»Wieso meinst du, dass
Weitere Kostenlose Bücher