Frau Holle ist tot
gerichtet, per E-Mail zum Beispiel, aber warum hatte er das
dann nicht erwähnt? Verschwieg Grewe etwas? Annika hatte gesagt, dass Holler
das Jugendamt vor Mertens warnen wollte. Grewe hatte aber nichts auf Klaus
Mertens kommen lassen. Vielleicht war Grewe Mertens’ Komplize gewesen. Oder
Hochstätter, der ihm aus irgendeinem Grund zunächst seine Bekanntschaft mit
Kevin Möller verschwiegen hatte.
Er musste endlich seinen Vater erreichen.
Möglicherweise war die Gefahr für Annika mit Mertens’ Tod noch nicht vorbei.
Und wenn Annika in Gefahr war, dann war vielleicht auch Herbert bedroht. Er
rief auf dem Festnetz bei ihm zu Hause an, nicht einmal ein Anrufbeantworter
meldete sich. Er versuchte es auf dem Handy, aber auch dort war er nicht
erreichbar.
Er hatte die Ansage der freundlichen Sprecherin gerade
weggedrückt, als sich Winkler meldete.
»Ich bin auf dem Weg zurück ins Präsidium, kurz vor
der Auffahrt auf die Schnellstraße. Dein Kaffee ist viel besser als der im
Präsidium, ist es okay, wenn ich kurz vorbeikomme?«
Zehn Minuten später saß Winkler mit einem großen,
dampfenden Milchkaffee mit Mayfeld am Esstisch.
»Die Nachbarn von Hochstätter haben alle nichts
bemerkt«, berichtete die Kollegin. »Bei dem Abstand, den die Häuser voneinander
haben, ist das kein Wunder. Verwertbare Spuren vor dem Haus und um das Haus
herum haben wir auch keine gefunden. In dem Zimmer, in dem die Leiche von
Mertens lag, ist die Spurensicherung dafür gleich mehrfach fündig geworden.«
»Wie du vermutet hast«, unterbrach sie Mayfeld.
Winkler lächelte geschmeichelt. »Sie haben Haare
gefunden und etwas, das nach Hautpartikeln aussieht.«
Mayfeld holte das Foto von Marie und Lisa aus dem
Album, das neben seinem Notebook lag. Das aktuelle Foto von Marie Lachner legte
er daneben.
»Fällt dir etwas auf?«
Winkler schaute Mayfeld ratlos an, so als wartete sie
auf eine Erklärung für seine rätselhafte Frage. Dann studierte sie die beiden
Fotografien sorgfältig. Schließlich sagte sie: »Könnte sein, dass das Mädchen
neben deiner Tochter Marie Lachner ist.«
Mayfeld nickte.
»Was sollte die Frage?«
Bislang war Burkhard der Einzige gewesen, der Marie
Lachner auf dem Foto sofort erkannt hatte. Und gestern hatte Mayfeld den
Eindruck gehabt, als hätte sich Burkhard über seine spontane Äußerung im
Nachhinein ziemlich geärgert. Aber dann hatte er die Verärgerung auf die
Intrigen von Lackauf zurückgeführt. Das konnte Mayfeld der Kollegin unmöglich
sagen.
»Gib mir etwas Zeit«, bat er sie.
Winkler akzeptierte das ohne weiteres Nachfragen oder
Murren, aber kurze Zeit später bedankte sie sich für den Kaffee und stand auf.
Im Hinausgehen fiel ihr noch etwas ein.
»Marie Lachners Handy ist heute Vormittag kurzfristig
im Bereich des Sendemastes von Kloster Eberbach geortet worden. Dann war es
wieder verschwunden.«
Mayfeld bedankte sich für die Information und
begleitete Winkler zur Tür. Ihm war ein monströser Verdacht gekommen, ein
Verdacht, den er niemandem mitteilen konnte, mit Ausnahme seiner Frau.
Vielleicht sollte er jetzt nach Kiedrich fahren und mit ihr sprechen.
In diesem Moment zeigte sein Handy den Empfang einer SMS an: »Hab gerade mit Mum telefoniert. Sie meint, du
suchst Opa. Opa ist seit gestern in der Kisselmühle Lamas hüten. Hdgdl Lisa«
Mayfeld änderte sofort seine Pläne.
***
Es war dunkel geworden, und Basti holte sein
Nachtsichtgerät aus dem Rucksack. Der Mann, der außer ihm die Kisselmühle
beobachtete, war immer noch da. Der Alte und die Mädchen hatten am Abend die
Lamas zurückgetrieben und waren zusammen mit den Tieren im Stall verschwunden.
Der Mann war ihnen nachgeschlichen,
heimlich, wie die Hexen schleichen. Wie einer, der Böses im Sinne hat. Er
war ebenfalls im Stall verschwunden.
Basti versuchte, etwas im Inneren des Gebäudes zu
erkennen. Aber der fremde Mann hatte die Schiebetür zugezogen und nur einen
kleinen Spalt offen gelassen. Da half kein Nachtsichtgerät.
Hinter dem Stall bewegte sich etwas. Ein weiterer Mann
kam den Weg von den Häusern entlanggelaufen, ging über die Brücke, an dem Tipi
und der Esche vorbei zum Stall und betrat ihn durch den offenen Spalt.
Basti verließ sein Versteck.
***
Nicht mehr lange und die Dämmerung war der Nacht
gewichen. Wo noch vor Kurzem buntes Herbstlaub die letzten Sonnenstunden
gefeiert hatte, ragten jetzt dunkle Baumwipfel in einen sich verfinsternden
Himmel. Mayfeld bog bei der zweiten Ausfahrt Richtung
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