Frau Holle ist tot
aufs andere. Sie war eindeutig zu dünn angezogen für die
Außentemperaturen.
Mayfeld sah sie fragend an. »Was soll ich dir
glauben?«
»Dass sie hinter mir her sind?«
»Woher soll ich das denn wissen, wenn du mir nicht mal
sagst, wer hinter dir her sein soll?«
»Ich will wissen, ob du glaubst, dass ich spinne. Ich
will nicht in die Klapse!«
»Das glaub ich dir aufs Wort. Und ich bin auf deiner
Seite.« Das war absolut ehrlich gemeint, obwohl dieses Mädchen ziemlich
verrückt zu sein schien. Aber Zwangseinweisungen, das ging für Herbert Mayfeld
gar nicht. »Wer war der Besucher, der vorhin den Stress gemacht hat?«
Sie schaute ihn geheimnisvoll an. »Es ist besser, wenn
du nicht zu viel weißt.«
Das Mädchen war wirklich ziemlich verrückt. Sie
schwiegen eine Weile und rauchten.
»Willst du mir helfen?«, fragte sie dann.
Herbert Mayfeld nickte.
»Ehrlich? Voll krass. Lass uns abhauen. Ich mach dem
Pfleger schöne Augen, und du haust ihm von hinten mit der Bettpfanne eins über
den Schädel. Wenn du mir hilfst, bin ich ganz lieb zu dir.«
Sie versuchte, ihn wie ein waidwundes Reh anzuschauen,
öffnete ihren Kimono etwas und lachte dabei ziemlich schrill. Mayfeld kamen
Zweifel, ob es eine gute Idee war, dieser Irren zu helfen.
»Danke für das Angebot, aber vergiss es. Das mit der
Bettpfanne. Ich kann dir ein paar Tipps geben, was du dem Psychiater morgen
sagen musst, damit er dich laufen lässt.«
»Die lassen niemand laufen!«
Mayfeld schnippte seine Kippe in den Plastikbecher.
»Verhalte dich zur Abwechslung mal klug. Sag dem Doktor nicht, dass sie hinter
dir her sind. Sag ihm auch nicht, dass sie dich vergiften wollten. Sag, das
hättest du dir ausgedacht, weil du so durcheinander gewesen wärst. Sag, du
hättest das erfunden, weil du dich für die Sauferei so sehr geschämt hättest.
Und du wolltest dich auch nicht umbringen, du hättest einfach zu viel gesoffen
wegen irgendeines Liebeskummers. Das mit den Tabletten sei eine
Kurzschlussreaktion gewesen. Aber mittlerweile wüsstest du, dass kein Typ das
wert sei. Und frag ihn am Ende noch, ob er einen guten Psychiater kennt, zu dem
du ambulant gehen könntest. Schau ihn dabei so an, wie du mich gerade
angeschaut hast, aber lach nicht und lass den Kimono zu. Vielleicht gibt er dir
dann einen Termin in seiner Klinikambulanz. Und jetzt gehen wir wieder in
unsere Boxen. Es ist kalt.«
Wenn sie das hinkriegen würde, dann wäre sie doch
nicht so krank, wie er dachte, sagte sich Mayfeld. Diese Überlegung beruhigte
ihn etwas.
»Tschüss, mein alter Freund«, sagte Annika. »Und
tschüss Erdmännchen!« Sie machte eine Verbeugung zu der Erdmännchenfamilie aus
Plastik.
Dienstag, 25. Oktober
Draußen wurde es allmählich hell. Neben ihr
arbeitete ein Sägewerk. Viele Raummeter Holz hatte es zersägt, die ganze Nacht
über, ohne Pause. Sie war immer wieder hochgeschreckt und hatte immer wieder
auf den Brieföffner gestarrt. Der lag auf dem Dielenboden ein paar Meter vom
Bett entfernt und wurde von dem Nachtlicht beleuchtet, das der Kerl in die
Steckdose gesteckt hatte, bevor er sich neben sie gelegt hatte. Mit dem
Brieföffner hätte sie das Monster abstechen können, dann wäre jetzt Ruhe im
Karton. Aber sie hatte sich nicht getraut. War vielleicht besser so.
Das Bett stand in einer Nische. Rechts konnte sie
durch ein vergittertes Fenster in den düsteren Wald schauen, links lag der
Riese. Ein paarmal hatte sie in der Nacht versucht, über den Wulst aus Decken,
den er zwischen sie und sich platziert hatte, und über ihn selbst
hinüberzusteigen, aber jedes Mal hatte er so furchterregend gegrunzt und
geschnieft, dass sie den Versuch abgebrochen hatte.
Der Akku ihres Handys war leer, und sie blöde Kuh
hatte das Ladegerät zu Hause liegen lassen. Annikas Smartphone hatte auch
keinen Saft mehr. Ganz schön aufgeschmissen war man ohne Handy. Hoffentlich
konnte Kevin was mit ihrer Nachricht anfangen. Sie war vermutlich nicht weit
von der nächsten Stadt entfernt, aber es kam ihr so vor, als läge sie ewig weit
weg vom nächsten zivilisierten Lebewesen in diesem muffigen Bett.
Sie schaute sich das Monster genau an. Ein Riesenkerl
mit Riesenpranken, einem Riesenkopf und Riesenpickeln im Gesicht. Er hatte sich
mit all seinen Klamotten zu ihr ins Bett gelegt und sie nicht ein einziges Mal
angefasst.
»Sei getrost, liebes Schwesterchen, und schlaf nur
ruhig ein, Gott wird uns nicht verlassen«, hatte er gesagt, bevor er den ersten
Raummeter Holz klein
Weitere Kostenlose Bücher