Frau Holle ist tot
habe ich dir immer gesagt.«
»Du kannst aufhören, den großen Bruder zu spielen, auf
die Idee mit den Scheißpillen hast du mich schließlich gebracht«, versetzte
Annika pampig.
Er grinste. »Ja, das war keine gute Idee. Aber ich
will dir keine Vorhaltungen machen, und du sollst mir auch keine machen. Was
ist passiert?«
»Woher weißt du das mit dem Notarzt überhaupt?
Verfolgst du mich?«
»Das ist so eine fixe Idee von dir mit dem
Verfolgtwerden.«
»Just because you’re paranoid,
don’t mean they’re not after you.«
»Jetzt mal im Ernst, Schwesterchen, was ist passiert?«
»Woher weißt du, dass ich hier bin?«
»Ich wollte dich anrufen, und da hat sich Marie
gemeldet. Unsere Marie. Sie hat mir gesagt, dass dich der Notarzt geholt hat
und hat mir außerdem ein paar Geodaten geschickt. Was soll das werden? Ich habe
keine Zeit für Geotagging-Spielchen.«
»Dann hat sie also mein Handy.« Annika schien nicht
wirklich überrascht zu sein.
»Sieht ganz so aus. Kannst du mir die SD -Card wiedergeben?«
»Wir hatten einen Deal. Ich hab dir erzählt, was ich
wusste, du hast mir dafür die Karte gegeben. Ohne mich wärst du nie auf die
Mühle in Johannisberg gekommen.«
»Was, verdammt noch mal, ist am Samstag passiert? Wir
hatten einen Deal, das ist richtig. Aber du hast versprochen, dass du die Klappe
hältst.«
Annika schwieg viel zu lange.
»Hast du geredet? Wer hat die Speicherkarte? Weiß das
Arschloch etwas?«
Annika schwieg schon wieder. Das hatte nichts Gutes zu
bedeuten. Und sie bekam ihren irren Blick.
»Die Ärzte haben Rohypnol in meinem Blut gefunden. Sie
behaupten, dass ich mich umbringen wollte. Das ist Blödsinn. Ich glaube, das
Arschloch wollte mich vergiften. Keine Ahnung, wie er das angestellt hat, aber
es hat fast geklappt. Vielleicht hat er mir das Zeug in die Wodkaflasche
getan.«
»Was säufst du auch Wodka am helllichten Tag«, moserte
Kevin.
»Halt doch einfach mal die Klappe«, giftete Annika
zurück.
»Das hättest du mal tun sollen. Was hast du dem
Arschloch gesagt? Was weiß Marie?«
Annika fing an zu heulen.
»Was hast du gesagt?«
»Lass mich in Ruhe! Ich hab keinen Bock auf dieses
Scheißgespräch!«
Kevin streichelte ihr über den Arm.
»Ganz ruhig, Schwesterchen, es wird alles gut, wenn
wir zusammenhalten. Du gibst mir die Karte zurück und hältst schön die Klappe.
Dann wird alles gut. Lass mich machen, ich hab einen Plan. Es ist jetzt nur
wichtig, dass du mit niemandem über die Sache sprichst. Kein Wort zu
irgendwelchen Ärzten oder den Bullen. Die Bullen sind gefährlich. Das weißt du
doch?«
Sie schlug seine Hand weg.
»Wo ist die Karte?«
Als sie nicht antwortete, begann er, in ihrem
Nachttischschränkchen zu stöbern. Keine Karte. Er ging zu ihrem Schrank, holte
ihre Tasche heraus und durchsuchte sie. Keine Karte. Annika schaute seelenruhig
zu.
»Die Karte ist gar nicht hier. Ist sie noch in deiner
Wohnung? Oder hast du sie in das Handy gesteckt? Hat Marie die verdammte
Karte?«
Annika schwieg weiterhin. Das war ein ganz schlechtes
Zeichen, fand Kevin.
»Ich fass es nicht. Du hast sie tatsächlich dieser
Tussi überlassen.«
Er ging zur Tür.
»Schwesterchen, das war nicht gut. Hast gesoffen und
die Klappe nicht gehalten. Das war gar nicht gut. Tu mir einen Gefallen und
halte wenigstens jetzt den Mund. Zumindest für ein paar Tage. Es wird dein
Schaden nicht sein. Mehr kann ich dir jetzt nicht sagen. Aber glaub mir, es
wird alles gut, ich habe die Lage vollständig unter Kontrolle.«
Dann verließ er das Krankenzimmer. Er wusste, dass er
nicht mehr viel Zeit hatte.
***
Mayfelds Fahrt nach Lorch wurde begleitet
von den Klängen der »Rheinischen Sinfonie« Robert Schumanns. Bei Fahrten wie
dieser zahlte es sich aus, dass er im letzten Jahr eine neue Audioanlage in
seinen Volvo hatte einbauen lassen.
Der Kfz-Mechaniker hatte ihn darauf hingewiesen, dass
eine derart aufwendige Anlage nicht gut zu dem Oldtimerstatus passte, den sein
Wagen im nächsten Jahr erreichen würde. »Ist halt ein jung gebliebener Alter«,
hatte Mayfeld geantwortet. Er wusste gar nicht, wie man diese Welt ohne gute
Musik aushalten sollte.
Am Ortsausgang von Rüdesheim stand Mayfeld eine halbe
Ewigkeit an einer geschlossenen Schranke. Die Gleise der Bahnstrecke nach
Koblenz kreuzten hier die B 42, mehrere Züge brausten vorbei und störten den
Hörgenuss. Einige Meter weiter legte die Fähre aus Bingen am Flussufer an.
Fußgänger und Fahrradfahrer drängten sich
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