Frau Holle ist tot
auf dem engen Uferweg, unbeirrbar auf
der Suche nach so etwas wie Rheinromantik.
Hinter Rüdesheim rückten die Felsen des steiler
werdenden Flussufers immer näher zusammen, das Tal wurde enger. Das schmale
Asphaltband der Bundesstraße schlängelte sich direkt am Wasser entlang, etwas
oberhalb waren die Bahngleise in den Fels geschlagen. Überall waren Stahlnetze
angebracht, die vor Steinschlag schützen sollten. Mayfeld überholte ein paar
tollkühne Radfahrer, die sich auf die enge und viel befahrene Straße gewagt
hatten.
Er passierte den Mäuseturm, die historischen
Hotelbauten in Assmannshausen, warf einen Blick auf die Burgen auf der
linksrheinischen Seite. Die Burgen, die Fachwerkhäuser, die steilen Felsen, der
mächtige Fluss und die Herbstfarben: Hier war die Rheinromantik endlich zu
finden.
Vor Lorch verließ er die Bundesstraße und fuhr durch
eine Bahnunterführung, die direkt auf das Hilchenhaus stieß. Mit Bedauern
unterbrach er die Aufführung der »Rheinischen Sinfonie« und parkte seinen Wagen
direkt am Bahndamm.
Das Hilchenhaus war ein imposantes fünfstöckiges
Gebäude aus Sandstein und Fachwerk. Im 16. Jahrhundert erbaut, war es seit
Jahren dem Verfall preisgegeben. Überall bröckelte Putz, zahlreiche Fenster
waren ausgeschlagen oder verrammelt. »Eine Schande« und »Schäm dich Lorch«
hatten erboste Bürger auf einige der Verschläge im Erdgeschoss gesprayt, was
der Ruine einen morbiden Charme verlieh. Immerhin war das Betonskelett, das ein
windiger Investor hinter dem historischen Gebäude hatte errichten lassen, bevor
er während der Bauarbeiten Pleite ging, weitgehend wieder abgerissen.
Auf der Brachfläche neben dem Hilchenhaus standen ein
paar Bauwagen, ein Bagger, und Arbeiter waren damit beschäftigt, den
verfallenden Bau einzurüsten. Eine Plakatwand kündigte die Renovierung des
Gebäudes an. Es bestand also Hoffnung, dass die Schande Lorchs irgendwann
getilgt sein würde.
Ein paar Häuser weiter lag das Weingut Fromm. Das
Weingut hatte schon bessere Zeiten gesehen, das Gebäude machte einen nur wenig
erfreulicheren Eindruck als das Hilchenhaus. Das Holz des Eingangstors schien
morsch zu sein, die Balken des Fachwerks bedurften dringend einer Sanierung,
der Putz der Gefache war an den Ecken ausgeschlagen, und überall fehlte Farbe,
um die Substanz des Baus zu schützen und das Auge des Betrachters zu erfreuen.
Auf Mayfelds Klingeln erschien ein groß gewachsener,
leicht gebeugter Mann um die sechzig am Tor. Seine Haare, seine Kleidung und
seine Gesichtsfarbe waren grau und passten perfekt zum Weingut.
»Georg Fromm?«
»Wer soll ich denn sonst sein?«, antwortete der Mann
griesgrämig.
»Hauptkommissar Mayfeld von der Wiesbadener
Kriminalpolizei. Mein Beileid zum Tod Ihrer Schwester. Kann ich reinkommen? Ich
habe ein paar Fragen.«
»Na klar. Nur um mir Ihr Beileid auszusprechen, wären
Sie vermutlich nicht hier raus gekommen«, sagte der Mann mit dem mürrischen
Gesichtsausdruck und ließ Mayfeld widerwillig in den Hof des Weinguts.
Paletten mit Flaschen standen im Freien, in einer Ecke
rostete ein Traktor vor sich hin. Georg Fromm führte Mayfeld ins Haus. Der Flur
war dunkel, die Möbel stammten aus dem vorletzten Jahrhundert, es roch nach
altem Staub und Niedergang. Über der verschnörkelten Holztür, die Fromm
öffnete, stand »Weinstube«, und zum Weinen konnte einem hier in der Tat zumute
sein.
Der Winzer setzte sich an einen dunkel gebeizten
Bauerntisch und bat Mayfeld, ebenfalls Platz zu nehmen.
»Wann kann ich denn das Haus meiner Schwester, Gott
hab sie selig, in Besitz nehmen?«
Fromm kam ohne Umschweife auf die einzige Sache, die
ihn offensichtlich interessierte, zu sprechen.
»Das müssen Sie den Notar fragen, der das Testament
Ihrer Schwester beglaubigt hat«, antwortete Mayfeld trocken. Seine Gier machte
ihm den Mann unsympathisch. »Wenn es für Sie etwas zu erben gibt, erfahren Sie
es von ihm oder vom Nachlassgericht.«
Fromm war verblüfft, sein Gesichtsausdruck wirkte
dadurch nicht gerade intelligenter. Wie ein Ochse, dem man auf die Schnauze
pinkelte, fand Mayfeld. Dann wechselte Fromm den Gesichtsausdruck und setzte
eine Leidensmiene auf, die ihm nur geringfügig besser stand.
»Sie hat ein Testament gemacht?«, fragte er mit rauer
Stimme.
»Wir haben in ihren Unterlagen bislang keines
gefunden, wohl aber die Rechnung eines Notars, der ein Testament beglaubigt
hat.«
»Wieso weiß ich nichts davon?«
»Sie haben mit Ihrer Schwester wohl
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