Frau Holle ist tot
die Sache mit dem Verzeihen irgendwie
anders in Erinnerung, die schlecht gespielte Milde seines Gegenübers kam
eindeutig zu spät. Aber Fromm hatte sich offenbar wieder gefangen. Das war
bedauerlich, nicht nur wegen des salbungsvollen Tons, um den er sich jetzt
bemühte. Die Wahrscheinlichkeit war jetzt wieder gestiegen, dass Mayfeld mehr
oder weniger gut ausgedachte Lügen aufgetischt bekam.
»Könnten Sie einfach erzählen, worum es ging?«, fragte
er in sachlichem Ton. »Ich versuche, mir ein Bild von Ihrer Schwester zu
machen.«
Fromm dachte einen Moment nach. Dann entschloss er
sich zu reden.
»Unser erster Sohn ist mit sechzehn an einer
Bluterkrankung gestorben. Unser zweiter Sohn kam zur Welt, als meine Frau
vierzig war. Er hat sich nicht so entwickelt, wie man sich das von einem Sohn
wünscht. Meine Schwester war der Meinung, ich sei zu streng mit ihm.
Psychologen und Lehrer wissen ja immer alles besser. Und deswegen hat sie meine
Frau dazu angestiftet, mich zu verlassen. Später hat sie dann mit dem Geld aus
der Lebensversicherung ihres Mannes ein Haus gekauft, in dem sie Waltraud
wohnen lässt. Dabei gehört Waltraud hierher. Meine Schwester konnte immer nur
zerstören.«
Für Mayfeld klang das, was er da hörte, eher nach
einer ungewöhnlich hilfsbereiten und großzügigen Frau.
»Wann war die Trennung?«
»Vor fünfzehn Jahren.«
»Sie sind immer noch nicht darüber hinweg. Wenn Sie es
sich und uns einfach machen wollen, dann kommen Sie morgen in Wiesbaden im
Präsidium vorbei und liefern eine Speichelprobe ab. Sie sind nicht dazu
verpflichtet, aber wir würden Ihre DNA dann
bestimmen und sie mit den Spuren, die wir am Tatort gefunden haben,
vergleichen. Wenn Ihre DNA nicht dabei ist, sind
Sie wahrscheinlich aus dem Schneider.«
»Ich hab zu tun«, jammerte Fromm, der plötzlich
kleinlaut geworden war. »Ich muss mich um den neuen Wein im Keller kümmern.«
»Ich weiß«, antwortete Mayfeld verständnisvoll. Er
wusste allerdings auch, dass das nicht den ganzen Tag in Anspruch nehmen würde.
»Sie müssen den Leichnam Ihrer Schwester sowieso identifizieren, Sie sind der
nächste Angehörige. Wenn Sie morgen nicht kommen können, kommen Sie übermorgen.
Wenn wir ausgeschlossen haben, dass Ihre DNA am
Tatort zu finden ist, stehen Ihre Chancen ziemlich gut, dass wir Sie in Ruhe
lassen. Wenn Sie nicht kooperieren, ist es wahrscheinlich, dass Sie noch oft
nach Wiesbaden kommen müssen.«
Die freundlich ausgesprochene Drohung wirkte. Fromm
hörte mit dem Jammern auf und nickte zustimmend.
»Eine letzte Frage für heute: Wo wohnen Ihre Exfrau
und Ihr Sohn?«
»Waltraud und Sebastian wohnen in Eltville, im
Sülzbachtal, kurz vor dem Alten Forsthaus.«
Mayfeld stand auf. »Ich finde alleine nach draußen«,
sagte er statt eines Abschiedsgrußes.
Draußen warteten frische Luft, sein alter Volvo und
der dritte Satz der »Rheinischen Sinfonie«.
Schumanns Musik war gerade verklungen, und Mayfeld
stand an der Ampel bei der Rüdesheimer Fähre, als sein Handy klingelte. Es war
Winkler.
»Ich bin in der Praxis von Dr. Holler. Das
Testament habe ich noch nicht gefunden, auch keine Datenträger mit
Sicherungsdateien, aber den Ordner mit den Kostenzusagen. Ein Name wird dich
interessieren: Marie Lachner befindet sich seit einem Jahr bei Frau Holler in
Behandlung.«
Er rief Burkhard an. Der war gerade auf dem Weg zurück
ins Präsidium.
»Bei den Lachners habe ich nichts Interessantes für
unseren Fall herausgefunden«, berichtete der Kollege. »Marie, die Ausreißerin,
verhält sich auffällig, seit sie einen kleinen Bruder bekommen hat. Sie ist im
letzten Jahr in der Schule abgerutscht und sollte deswegen in ein Internat. Das
hat ihr wohl nicht geschmeckt, und deswegen ist sie abgehauen, übrigens nicht
zum ersten Mal. Sie hat einen Rucksack, eine Zahnbürste und ein paar Sachen zum
Wechseln mitgenommen.«
Hinter ihm begannen Autofahrer zu hupen. Die Ampel war
auf Grün gesprungen, und Mayfeld hielt den Verkehr auf. Er winkte
entschuldigend nach hinten und setzte seinen Wagen in Bewegung.
»Sie ist Klientin bei Frau Dr. Holler gewesen«,
ergänzte Mayfeld. »Heike hat die Kostenzusagen der Krankenkassen gefunden, die
du übersehen hast.«
Er sollte sich solche Spitzen besser sparen. Aber aus
irgendeinem Grund war er gereizt, wahrscheinlich wegen der Vorladung, die er am
Morgen erhalten hatte.
»Prima. Tut mir leid, dass ich die übersehen habe.
Aber wenn man weiß, wonach man sucht, findet man es
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