Frau Holle ist tot
dass du
eine blöde Kuh bist. Das macht man nicht, Mädchen schlagen. Und eine blöde Kuh
bist du auch nicht. Stimmt’s?«
»Das hat Kevin nicht so gemeint.« Marie hätte sich auf
die Zunge beißen können.
Basti schien eine Weile nachzudenken. Dann packte er
sie am Handgelenk.
»Du kennst den Mann, stimmt’s? Du hast ihm gestern
geschrieben, stimmt’s? Gehst du wieder ins Zimmer?«
Marie wurde schwindelig. Es kam ihr so vor, als ob ihr
jemand den Hals zudrückte.
»Ich will nicht mehr eingesperrt sein«, presste sie
hervor.
»Aber dann läufst du weg«, sagte Basti. »Zum Kevin.«
»Bestimmt nicht«, versprach Marie.
»Sag mir, wo er wohnt!«
»Warum willst du das wissen?«, fragte sie.
»Dann weiß ich, dass du nicht zu ihm gehst.«
So doof schien er doch nicht zu sein. Sie nannte ihm
Kevins Adresse. Erst im Nachhinein fiel ihr ein, dass sie ihm auch eine
Phantasieadresse hätte nennen können.
»Du läufst nicht weg?«
»Versprochen!«
»Versprochen und nicht gebrochen?«
»Versprochen und nicht gebrochen!«
Basti dachte wieder eine Weile nach.
»Ei gut«, sagte er schließlich.
***
Das Rüdesheimer Krankenhaus war ein dreistöckiger,
verwinkelter Flachbau, an den in der Vergangenheit immer wieder angebaut worden
war, und auch jetzt arbeiteten Handwerker an mehreren eingerüsteten Teilen des
Gebäudes. Die Mitarbeiterin hinter dem Empfangstresen wies Mayfeld den Weg zur
Station eins, auf der sowohl Annika Möller als auch sein Vater lagen.
Das Zimmer von Herbert Mayfeld war das erste nach dem
Eingang zur Station. Doch Mayfeld traf seinen Vater dort nicht an. Er ging
weiter zum Stationszimmer, wo sich eine korpulente Schwester mit
Verwaltungsarbeit herumschlug.
»Er ist vermutlich unterwegs auf der Suche nach einem
Ort im Krankenhaus, wo er rauchen kann, ohne sich in die Kälte stellen zu
müssen«, erklärte sie ihm grinsend. Dann besann sie sich und setzte eine
tadelnde Miene auf. »Eine Stationshilfe hat ihn schon im Keller angetroffen. Da
haben wir zwei wirklich schwer Nikotinabhängige von der Intensivstation
bekommen. Frau Möller ist nicht viel besser als Herr Mayfeld. Aber deswegen
sind Sie vermutlich nicht hier.«
Mayfeld war es nicht geheuer, dass die
Krankenschwester von Annika Möller und seinem Vater im selben Atemzug sprach,
aber schließlich hatte er sie nach beiden gefragt.
»Mir ist es nicht recht, dass dieses Mädchen bei uns
liegt«, sagte die Schwester. »Aber der Psychiater meinte, sie sei nicht mehr
suizidal, und eine Behandlung in der Ambulanz im Valentinushaus genüge bei ihr
vollkommen. Na ja, er muss es wissen.«
Sie kam aus dem Stationszimmer heraus und wies Mayfeld
den Weg zum Zimmer der Patientin.
Annika Möller war eine attraktive junge Frau mit
bleichem Gesicht und Haaren, die so schwarz waren wie das Fell des Teufels. Sie
blickte ihn mit braunen Rehaugen an, aber Mayfeld fand, dass etwas
Beunruhigendes von ihr ausging. Wahrscheinlich lag es an dem bitteren Zug um
ihren Mund, den sie sich rot wie eine Blutlache angemalt hatte.
Ihr Gesicht verfinsterte sich für einen Moment, als er
ihr seinen Dienstausweis zeigte, dann setzte sie ein gekünsteltes Lächeln auf.
»Ich hab doch schon mit dem Psychiater geredet«,
flötete sie, noch bevor Mayfeld eine Frage stellen konnte. »Ich habe nicht vor,
mir noch mal was anzutun, niemand muss sich wegen mir Sorgen machen. Es war
eine dumme Kurzschlussreaktion wegen eines Typen, und kein Typ dieser Welt ist
es wert, dass ich mein Leben wegwerfe.« Sie klimperte mit den langen schwarzen
Wimpern.
Das hatte sie sich fein zurechtgelegt, fand Mayfeld.
»Es freut mich, dass Sie jetzt diese Sicht der Dinge
haben, aber deswegen bin ich nicht hier. Ich suche Marie Lachner, die seit
Samstag verschwunden ist. Ihre Eltern meinten, Sie könnten wissen, wo sie sich
aufhält.«
»Marie Lachner?«, fragte die junge Frau in einem
Tonfall, als ob sie nicht wüsste, von wem die Rede war.
»Ihre Freundin.« Mayfeld zeigte Annika das Foto von
Marie.
»Ach so, ja natürlich, Marie.« Annika dachte einen
Moment nach, bevor sie fortfuhr. »Wie soll ich wissen, wo sie steckt? Ich bin
seit drei Tagen hier im Krankenhaus, davon war ich einen Tag bewusstlos wegen
dieser Scheißkurzschlussreaktion. Ich habe keine Ahnung. Wahrscheinlich hat sie
es bei ihren beschissenen Eltern nicht mehr ausgehalten und ist abgehauen.«
»Was ist an ihren Eltern so beschissen?«
»Alles, glaube ich.«
»Geht es ein wenig präziser?«
»Es sind halt
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