Frau Holle ist tot
sein, überlegte Mayfeld.
»Ich weiß Ihre Offenheit zu schätzen«, sagte er.
»Hatte Marie häufigen Kontakt zu Annika und Kevin?«
»Vor allem zu Annika. Früher ist Annika auch oft zu
uns nach Hause gekommen.«
»Ihre Mutter wohnte bei Ihnen im Haus?«
»So ist es.«
»Und Sie haben die Besuche Annikas nach dem Tod Ihrer
Mutter unterbunden?«
»Richtig. Ich fand, dass diese Hexe, entschuldigen Sie
den Ausdruck, dass diese Hexe kein adäquater Umgang für unsere Tochter war.
Marie lässt sich leicht von anderen beeinflussen. Sie muss nur jemanden ›cool‹
finden, und schon läuft sie der Person hinterher. Insbesondere wenn diese
Person möglichst anders ist als ihre Familie. Alle ausgeflippten, kranken,
abseitigen Personen ziehen sie magisch an. Aber ich konnte natürlich nichts
machen, wenn sie sich außerhalb mit ihr traf. Wenn Sie so wollen, habe ich vor
ihrem Dickschädel kapituliert. Kann ich Ihnen sonst noch mit irgendwelchen
Informationen behilflich sein?«
Irgendwo aus dem tiefsten Inneren eines
Gefrierschranks holte sie ein Lächeln hervor.
Mayfeld fragte Stefanie Lachner nach weiteren
Freundinnen oder Freunden von Marie.
Ȇber Nacht ist mir nichts Neues zu meiner Tochter
eingefallen«, antwortete sie spitz.
Mayfeld zog sein Handy aus der Jackentasche, öffnete
den Audioplayer und ließ die Nachricht abspielen, die am vergangenen Samstag
bei der Notarztzentrale eingegangen war.
Stefanie Lachners Gesicht erstarrte, als sie der
Aufzeichnung lauschte.
»Das ist Maries Stimme«, flüsterte sie zum Schluss.
»In was ist das Kind da hineingeraten?«
Mayfeld erinnerte sich daran, dass er beim Jugendamt
Informationen über die Pflegefamilie Mertens einholen wollte. Vielleicht konnte
er den Weg zum zuständigen Sachbearbeiter abkürzen.
»Wissen Sie noch, wer für Ihre Tochter früher beim
Jugendamt zuständig war?«
Stefanie Lachner überlegte eine Weile. Dann nickte
sie. »Ich glaube, der Mann hieß Grawe oder Grebe.«
Die unwahrscheinlichen Zufälle in diesem Fall mehrten
sich. Mit Oliver Grewe hatte Holler kurz vor ihrem Tod telefoniert.
Jonas Maximilian meldete sich zurück. Mayfeld bat
Stefanie Lachner um eine Haarbürste von Marie, bedankte sich für die Hilfe und
verabschiedete sich.
Eine halbe Stunde später parkte Mayfeld seinen
Volvo auf dem Parkdeck vor dem Bad Schwalbacher Kreishaus. Er betrat das
Gebäude und grüßte den Portier. Die Bilder des Künstlerkreises Johannisberg, »Alles
in Rot«, waren verschwunden. Er ging in den ersten Stock hinauf. Grewe war in
seinem Büro.
»Sie schon wieder, Herr Kommissar? Was kann ich
diesmal für Sie tun?«, fragte er leutselig. Sein Halstuch war heute aus blauer
Seide. »Setzen Sie sich doch bitte!«
»Ist Ihnen zu Ihrem Telefonat mit Sylvia Holler noch
etwas eingefallen?«, begann Mayfeld das Gespräch.
Grewe schüttelte den Kopf. »Ich hätte Sie angerufen.
Das habe ich doch zugesagt. Deswegen hätten Sie nicht herkommen müssen.«
»Sagen Ihnen die Namen Marie Lachner und Annika Möller
etwas?«
Grewe musste nur kurz nachdenken. »Annika Möller lebte
bei einer Pflegefamilie in Oestrich, den Mertens. Wahrscheinlich lebt sie immer
noch dort. Sie ist noch nicht lange volljährig, und als ich sie das letzte Mal
gesprochen habe, hatte sie noch keine Pläne umzuziehen.«
»Sie waren ihr Betreuer?«
»Der zuständige Sachbearbeiter hier im Amt.«
»Und für Marie Lachner waren Sie auch zuständig?«
»Das ist das Mädchen, das vermisst wird. Ich habe
davon in der Zeitung gelesen und mich gleich an sie erinnert. Sie wurde vor ein
paar Jahren von ihrer Tante adoptiert.«
»Die eine hat einen Suizidversuch gemacht, die andere
ist verschwunden. Beide waren Patientinnen bei Dr. Holler, und die wurde
am selben Tag ermordet.«
»Patientinnen bei Dr. Holler?«
»Das wussten Sie nicht?«
»Woher sollte ich? War Annika Möller schon länger
Patientin bei Frau Dr. Holler? Dann hätte ich es wissen müssen. Mertens
wäre verpflichtet gewesen, es mir mitzuteilen. Aber mittlerweile ist sie ja
volljährig. Sie ist mir keine Rechenschaft mehr schuldig. Und Marie hat nichts
mehr mit dem Jugendamt zu tun, nachdem ihre Tante sie endlich adoptiert hat.«
»Was meinen Sie mit ›endlich‹?«
Plötzlich wurde Grewe zögerlich. »Ich weiß nicht, ob
ich befugt bin, Ihnen Details aus einem Adoptionsverfahren preiszugeben.«
»Wegen des Datenschutzes?«
Grewe nickte.
Das Wort konnte er allmählich nicht mehr hören. »Ein
paar
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