Frau Holle ist tot
Hintergrundinformationen würden uns möglicherweise weiterhelfen.«
Grewe überlegte wieder eine Weile, dann zuckte er mit
den Schultern.
»Wenn Sie wüssten, wie oft wir auf Informationen
warten, und niemand sagt uns was, weil wir von einem Amt kommen, dem die Leute
misstrauen. Aber das können Sie sich vermutlich nur allzu gut vorstellen. Viel
Interessantes habe ich Ihnen zwar nicht zu bieten, befürchte ich. Aber sei’s
drum. Das können Sie am besten selbst beurteilen.«
Das klang recht einsichtig, fand Mayfeld.
»Schießen Sie los«, bat er.
»Nach dem tödlichen Unfall ihrer Eltern gab es
zunächst niemanden, der sich um Marie kümmern konnte. Sie selbst war wie durch
ein Wunder bis auf ein paar unbedeutende Kratzer unverletzt geblieben.
Väterlicherseits gab es nur die Großeltern, und die waren damals schon ziemlich
hinfällig. Mütterlicherseits gab es die Großmutter und die Tante. Stefanie war
noch ziemlich jung, und die Großmutter saß mit im Unglücksauto und war lange
Zeit nicht in der Lage, sich um das Kind zu kümmern. Eine bemerkenswerte Frau
mit eisernem Willen. Sie hatte eine Vielzahl von Knochen gebrochen, sie lag
mehrere Monate im Koma, sie musste alles wieder lernen, laufen, sprechen, aber
sie hat es geschafft. Nach zwei Jahren war sie so fit, dass sie Marie zu sich
nehmen konnte.«
»Die Großmutter, nicht die Tante?«
»So ist es gewesen. Stefanie, ihr Mann Thorsten
Lachner und Frau Sandmann lebten unter einem Dach. Stefanie Lachner war von der
Idee, Marie in die Familie aufzunehmen, zunächst nicht begeistert. Aber sie
konnte schlecht etwas dagegen sagen, schließlich hatte ihre Mutter das ganze
Geld, das Haus, die Steuerberaterkanzlei und damit das Sagen in der Familie.
Leider hat die alte Frau Sandmann den Unfall nicht ohne bleibende Schäden
überstanden und bekam vor zwei oder drei Jahren einen Schlaganfall. Bevor sie
starb, hat sie dafür gesorgt, dass ihre Tochter Marie adoptierte.«
»Das klingt so, als ob die Lachners sich damit
schwergetan hätten.«
»Das sind Ihre Schlussfolgerungen, Herr Mayfeld. Auf
jeden Fall haben die beiden ziemlich lange gebraucht, bis sie einen
Adoptionsantrag gestellt haben.«
»Wie kommt es, dass Sie das alles noch so präsent
haben?«, fragte Mayfeld. »Sie haben doch bestimmt jede Menge Fälle zu betreuen?«
Grewe schien einen Moment irritiert, dann lächelte er
geschmeichelt.
»Ich habe ein gutes Gedächtnis, Herr Kommissar.
Außerdem ist das Adoptionsverfahren noch nicht lange abgeschlossen, ich denke,
das war 2009. Und als ich von Maries Verschwinden in der Zeitung las, kamen die
Erinnerungen an sie wieder hoch. Ein liebenswertes, aber auch ziemlich
kratzbürstiges Mädchen.«
Mayfeld war gespannt, was Grewe noch alles wusste.
»Was können Sie mir über die Mertens erzählen?«
»Klaus und Irene Mertens? Was ist mit denen?«
»Ich fand es merkwürdig, dass mir Mertens nicht
erzählt hat, woher er Marie kannte, als ich ihn nach ihr fragte.«
Grewe lachte gequält. »So ist der Klaus Mertens. Sagt
kein Wort zu viel. Ist aber ein zuverlässiger Kerl.«
»Ist er das?«
»Sonst würden wir ihm keine Kinder anvertrauen. Dafür
braucht man zuverlässige Menschen, nicht unbedingt große Redner.«
Da hatte Grewe zweifellos recht, aber die Antwort
stellte Mayfeld nicht zufrieden.
»Was haben Sie für Erfahrungen mit ihm gemacht? Seine
beiden Pflegekinder, Kevin und Annika Möller, sind nicht gerade gut geraten.«
»Mit Kevin haben Sie also auch schon gesprochen. Dann
plaudere ich eben noch ein wenig mehr aus dem Nähkästchen. Kevin und Annika
kamen aus einer völlig kaputten Familie. Falls man das überhaupt Familie nennen
konnte. Sie stammen von zwei Vätern, die beide unbekannt sind. Die Mutter war
drogenabhängig. Als wir die Kinder aus ihrer Wohnung rausholten, der Junge war
fünf, das Mädchen drei, waren beide schwer verwahrlost, unterernährt, dehydriert
und seit Wochen nicht mehr gewaschen. Die Mutter hat sich später nie mehr um
die Kinder gekümmert, nicht einmal nach ihnen gefragt. Dass die beiden später
Probleme mit ihrem Leben bekommen würden, war mehr oder weniger vorgezeichnet.
Da müssen nicht die Pflegeeltern oder das Jugendamt dran schuld sein.«
»Das hat auch niemand behauptet.«
»Es klang aber so.«
Es war auch so gemeint gewesen, musste Mayfeld im
Stillen einräumen. Aber Grewe hatte recht, Annika und Kevin Möller hatten einen
völlig verkorksten Start in ihr Leben gehabt, und alle Probleme, die sie
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