Frau Holle ist tot
aber der Gang der Dinge musste sich
nicht um sein Bedürfnis nach logischer Konsistenz scheren. Vielleicht hatte er
es mit einer Mischung aus Ursache-Wirkung-Ketten und Zufällen zu tun. Manches
hing miteinander zusammen, anderes war nur Zufall.
Während er so grübelte, kam Winkler hustend in sein
Zimmer. Sie legte Mayfeld eine DVD auf den
Schreibtisch.
»Hallo, Robert«, sagte sie mit rauer Stimme. »Du
hattest recht, es gab einen Datenträger, den wir übersehen haben. Diese
Sicherungs- DVD steckte zwischen anderen DVD s in Hollers Wohnzimmer.«
»Großartig, Heike. Hast du dir den Inhalt schon
angeschaut?«
Winkler nickte. »Die Daten wurden am 31. August
gesichert. Weitere DVD s habe ich leider keine
gefunden. Es sind alle möglichen Dateien auf dem Medium. Ein Kalender, ein
Adressbuch, Abrechnungsdateien und vor allem Patientenakten.«
»Und gibt es Dateien von Annika Möller und Marie
Lachner?«
»Ja. Ich hab sie allerdings noch nicht
durchgearbeitet.« Winkler zögerte einen Moment, dann fuhr sie fort. »Eigentlich
ist es der Alptraum eines jeden Datenschützers, dass die Polizei Mitschnitte
von Therapiesitzungen abhört oder mitliest.«
Mayfeld musste seiner Kollegin insgeheim recht geben.
»Es ist auch der Alptraum jedes Patienten, dass seine Therapeutin erwürgt
wird«, entgegnete er. »Und wir haben eine richterliche Erlaubnis. Aber es
reicht, wenn wir beide das lesen.«
Er überlegte eine Weile.
»Holler hat einen ziemlichen Aufwand mit Dokumentation
und Datensicherung betrieben. Erstaunlich, dass es keine Sicherung von Ende
September gibt.«
»Wieso?«
»Da machen Ärzte und Therapeuten ihre Abrechnung. Es
müsste Abrechnungsdaten von Ende September geben.«
»Alle Datensicherungen sind von Ende August. Das habe
ich als Erstes überprüft. Vielleicht steckte die letzte DVD ja noch im Laufwerk des PC s oder Notebooks.«
Mayfeld nickte. Das war eine Möglichkeit. »Es ist
merkwürdig, dass Dr. Holler die Abrechnungsdaten nicht täglich auf dem USB -Stick gesichert hat, wo sie in dieser Hinsicht doch
sonst so penibel gewesen ist. Aber vielleicht finden wir hier drin eine neue
Spur.«
Er legte die DVD in
seinen Computer und öffnete die Datei »Möller_Annika.doc« mit seinem
Textverarbeitungsprogramm. In der Datei war ein Besuch Annikas bei Dr. Holler
dokumentiert, der am 26. August stattgefunden hatte.
Holler hatte notiert: Schwarz
gekleidete siebzehnjährige Frau, schwarze Haare, roter Mund, blasser Teint. Typ
Gothic. Aggressives Auftreten, Pat. verbirgt vermutlich große
Selbstunsicherheit. Kommt wegen depressiv-moroser Verstimmung, Schlafstörung,
Selbstverletzung. Broken-home-Situation, lebt in Pflegefamilie. Anamnese nur
teilweise möglich, da Patientin mehrfach dissoziiert und stabilisiert werden
muss, was glücklicherweise problemlos möglich ist. Keine akute Suizidalität. VD : PTBS , DD :
Borderline. Patientin ist mit M.L. befreundet, also vermutlich nur Krisenintervention möglich.
Mayfeld klickte auf einen Link, der seinen Computer
dazu veranlasste, einen Audioplayer zu öffnen.
Er hörte die warme Stimme Hollers und die schnoddrige
von Annika Möller.
Eine Freundin habe gemeint, die Holler sei cool und
sie solle da mal hingehen, und sie habe sich gesagt, man könne das ja mal
austesten, antwortete Annika auf Hollers Frage, was sie zu ihr führe. Als die
Therapeutin fragte, ob sie immer tue, was man ihr sage, reagierte Annika
ausgesprochen gereizt, wollte das Gespräch abbrechen, blieb dann aber doch.
Aber nur unter der Bedingung, dass Holler das »Scheiß-Siezen« lasse.
»Ich denke, du hattest deine eigenen Gründe
herzukommen, und über die sollten wir sprechen«, sagte Holler.
»Warum nicht gleich so«, antwortete Annika in
beleidigtem Ton. »Mir geht es scheiße. Ich kann nicht schlafen, alles ist
sinnlos. Ich hab schon oft daran gedacht, Schluss zu machen. Aber das ist auch
sinnlos, und außerdem bin ich zu feige dazu. Ich hab mich schon geschnitten,
dafür bin ich nicht zu feige, vielleicht sollte ich einfach mal tiefer
schneiden, dann ist alles endlich rum.«
»Du bist hart zu dir selbst«, antwortete Holler. »Ich
vermute, das kommt daher, dass andere auch hart zu dir waren. Du bist es nicht
anders gewöhnt.«
»Läuft das hier immer so: Ich erzähl was von mir, und
Sie lassen kluge Kommentare ab?«, giftete Annika die Therapeutin an.
»Was macht dich so wütend, wenn ich vermute, dass
jemand hart zu dir war?«, wollte Holler wissen.
Anschließend hörte
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