Frau Holle ist tot
sich zu Tisch
gesetzt hatten.
Marie aß an diesem Abend wie ein krankes Vögelchen.
Hätte sie am Morgen mal nicht so viel Schokokuchen verdrückt! Er redete ihr gut
zu, aber es hatte keinen Zweck, sie hatte keinen Appetit.
Ich bin so satt, ich mag kein
Blatt, meh, meh.
Sie sah ganz blass aus. Sogar die Sommersprossen waren
blass geworden.
»Darf ich sie noch mal zählen?«, fragte er sie.
»Was willst du zählen?«, fragte sie zurück.
»Die Sommersprossen«, antwortete Basti. »Ob sie noch
alle da sind. Das letzte Mal waren es hundertsiebenundvierzig.«
»Was?«, schrie Marie.
»Hundertsiebenundvierzig. Am ganzen Körper. Ich hab
sie genau gezählt.«
»Du hast was?«
Basti erklärte es ihr genau. Wie er den Gürtel ihrer
Hose mit der Schere durchgeschnitten und die Hose heruntergezogen hatte, wie er
ihr den Pulli ausgezogen und das T-Shirt hochgeschoben hatte, wie er die
Sommersprossen um den Bauchnabel herum und auf den Brüsten gezählt hatte. Aber
Marie war gar nicht zufrieden.
»Du spinnst ja total«, schrie sie ihn an.
»Guten Tag, du altes Mütterchen«,
sprach die Königstochter, »was machst du da?« – »Ich spinne«, sagte die Alte
und nickte mit dem Kopf.
Marie schimpfte und sagte schlimme Worte. Gut, dass
Mama nicht zuhörte.
»Was ist denn schlimm am Sommersprossenzählen? Und
dass ich den Apfelgrütz gesucht hab?«
Marie wollte sich gar nicht mehr beruhigen, sie
schimpfte in einem fort, er konnte sagen, was er wollte. Essen wollte sie
nichts, und die Sommersprossen zählen lassen wollte sie auch nicht. Sie wollte
weg. Aber das wollte Basti nicht. Schon wieder musste er die Fäuste ballen.
Mädchen darf man nicht schlagen, sagte er sich. Weil sie schwächer waren.
Obwohl es dadurch doch einfacher wäre. Aber das hatten Mama und Frau Holle
immer wieder gesagt. Also stimmte es.
Zum Glück gab Marie irgendwann auf.
»Dann will ich wenigstens meine Ruhe haben, du
Spinner«, sagte sie, und es klang ein wenig kleinlaut. »Ich schlafe auf der
Matratze und du irgendwo auf dem Boden. Und komm mir nicht zu nahe!«
Basti gehorchte. Vor der Matratze der Königstochter
rollte er eine Wolldecke zusammen. Dann löschte er die Gaslampe und legte sich
auf den harten Boden vor die Tür.
Donnerstag, 27. Oktober
Seine Träume waren voller Märchen. Manchmal
träumte er nur Sätze, die er gelesen hatte, manchmal träumte er in Bildern.
Manchmal vermischten sich die Märchen.
Er hatte von Marie geträumt, wie sie in ihrem Bettchen
lag. Eine kleine süße Dirne, die hatte jedermann lieb, der
sie nur ansah. Da rief das Schwesterchen: »Ich bitte dich, Brüderchen, trink
nicht, sonst wirst du ein wildes Tier und zerreißest mich.« Das Brüderchen
trank nicht, ob es gleich so großen Durst hatte, und sprach: »Ich will warten
bis zur nächsten Quelle.«
Er wachte auf. Er hörte Maries regelmäßige
Atemgeräusche. Die Königstochter schlief.
Basti konnte nicht mehr einschlafen, es gingen ihm zu
viele Gedanken durch den Kopf. Wenn er doch noch mal ihre Sommersprossen zählen
könnte! Das hatte ganz viel Spaß gemacht. Aber wenn er das versuchen würde,
würde sie aufwachen und laut schreien. Das könnte zwar niemand hören, aber der
Spaß wäre vorbei. Oder ob es besonderen Spaß machen würde, wenn sie schrie?
Wahrscheinlich nicht. Als er sie ganz frisch gefunden hatte, war es irgendwie
schöner mit ihr gewesen. Da hatte sie einfach nur geschlafen, und er hatte sich
an ihrem Anblick erfreut. Ob er etwas tun konnte, dass es wieder so wurde? Dass
sie ihn nicht weiter Spinner nannte? Vielleicht war das mit dem Spinnen aber
gar keine so schlechte Idee. Märchen Nummer fünfzig.
Kaum hatte sie aber die Spindel
angerührt, so ging der Zauberspruch in Erfüllung, und sie stach sich damit in
den Finger. In dem Augenblick aber, wo sie den Stich empfand, fiel sie auf das
Bett nieder, das da stand, und lag in einem tiefen Schlaf.
Wo nahm er bloß eine Spindel her? Wenn er spinnen
würde, dann hätte er jetzt eine. Aber er war kein Spinner. Auf dem Klapptisch
lag ein großes spitzes Messer, das hatte er genau gesehen, bevor er die
Gaslampe ausgemacht hatte. Er erinnerte sich genau, an welcher Stelle des
Tisches es lag. Ob es mit einem Messer auch funktionieren würde? Ob er mit dem
Messer Marie in den Finger stechen sollte? Aber dieser Plan hatte einen Haken.
Und dieser Schlaf verbreitete sich
über das ganze Schloss: der König und die Königin, die eben heim gekommen waren
und in den Saal getreten waren,
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