Frau Paula Trousseau
mich sahen. Mit wem immer ich zu tun hatte, wo immer ich erschien, stets gab es für mich zur Begrüßung ein anerkennendes Lächeln. Durch keine andere Leistung hätte ich so viel Hochachtung und einhellige Bewunderung erreichen können, mit keiner Arbeit, keiner Note, keiner noch so wichtigen Belobigung hätte ich an der Hochschule mehr erreichen können, dabei war ich, wie ich erfuhr, nicht die erste und nicht die einzige Studentin gewesen, die sich als Aktmodell zur Verfügung gestellt hatte, aber ich war die erste schwangere Kommilitonin, die erste hochschwangere, die sich völlig nackt hingesetzt hatte. Blümchen Rührmichnichtan hatte ich geheißen, diesen Spitznamen hatte man mir an meinen ersten Tagen an der Schule verpasst. Ich lachte, als ich davon hörte. Ich fragte, wie man darauf gekommen sei, denn schließlich war es unübersehbar, dass ich schwangerbin, und Schwangersein und Rührmichnichtan, das passte nicht recht zueinander, doch ich hätte, wie ich hörte, auf Distanz geachtet. Dass man das Wort Distanz in einem Atemzug mit mir nannte, amüsierte mich. Zutreffender wäre es gewesen, hätte man mich als ängstlich oder feige oder schreckhaft bezeichnet, aber das Wort Distanz gefiel mir. Das klang nach Würde, und wenn meine erbärmliche Unsicherheit mir einen solchen Nimbus verschaffte, sollte es mir recht sein.
Diese halbe Stunde im Zeichensaal war ein grandioser Erfolg für mich. Für eine kurze Zeit, für einen Monat, für die sechs Wochen, die ich hochschwanger in der Schule herumlief, war ich ein Star, und ich genoss es, ohne mir etwas anmerken zu lassen. Es war angenehm, bewundert zu werden, und es steigerte mein Hochgefühl, wenn ich die Aufmerksamkeit scheinbar nicht bemerkte.
Wann immer ich Tschäkel über den Weg lief, strahlte er, blieb stehen und sagte irgendetwas zu mir. Ich glaube, wenn ich gewollt hätte, wenn ich ihm nur ein winziges Signal gegeben hätte, er hätte um meine Hand angehalten, so verliebt war er in mich.
2.
Sie stand vor der Haustür und klingelte ein zweites Mal. Das Notenbuch drückte sie an den Körper, stapfte mit den Füßen auf und presste eine Faust zwischen die Beine, da sie dringend auf die Toilette musste. Dann klingelte sie ein drittes Mal und rief nach ihrer Mutter. Schließlich rannte sie um das Haus herum und kauerte sich hinter einen Strauch. Während sie neben dem Haselnuss-Strauch hockte, schlug sie das große Notenbuch auf, stolz und mit leuchtenden Augen betrachtete sie die Noten desChopin-Walzers, den sie soeben im Unterricht angefangen hatte. Leise sang sie die Töne vor sich hin, völlig versunken in dem Musikstück, und erst als sie Kälte an dem entblößten Hintern spürte, stand sie rasch auf, klappte das Buch zu, zog sich die Hose hoch und lief wieder zur Haustür. Sie klingelte nochmals und kramte dann umständlich den Türschlüssel hervor, der unter Hemd und Pullover verborgen an einem Band um den Hals hing.
Im Haus rief sie wieder nach ihrer Mutter und ging dann in ihr Zimmer. Sie setzte sich an den Tisch, schlug das Notenbuch auf und stellte es vor sich hin. Aus der Schublade holte sie ein zusammengerolltes Tuch, auf dem Klaviertasten aufgedruckt waren, rollte es aus, streifte es glatt und begann, die Augen starr auf die Noten gerichtet, das stumme Spiel der Finger. Die Eltern hatten ihr versprochen, ein gebrauchtes Klavier zu kaufen, aber weder zu Weihnachten noch zu ihrem Geburtstag hatte sie das ersehnte Instrument bekommen und war vertröstet worden. Ihre Klavierlehrerin, Frau Stuckardt, hatte bereits zweimal versucht, ihren Eltern ein Klavier zu vermitteln, doch Paulas Vater hatte diese Angebote zurückgewiesen und der Lehrerin erklärt, er wolle zuerst sicher sein, dass das Interesse seiner Tochter an der Musik und dem Erlernen eines Instruments ernsthaft sei und nicht eine weitere Laune, bevor er sich ein so riesiges Möbelstück in die Wohnung stelle.
Plötzlich erstarrte Paula. Ihre Fingerspitzen verharrten reglos auf der Abbildung der Tasten, ihre Augen weiteten sich vor Schreck.
Sie stand auf und ging langsam und auf den Zehenspitzen zum Schlafzimmer der Eltern. Sie drückte vorsichtig die Klinke herunter und öffnete die Tür. Ihre Mutter lag angezogen auf dem Bett und schien ruhig zu schlafen. Paula ging zu ihr und sprach sie an, fasste nach ihrem Armund schüttelte ihn heftig. Sie rief und schrie, doch die Frau blieb reglos liegen und atmete schwer. Paula sah die Medikamentenpackungen auf dem Nachttisch, stürzte aus
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