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Frau Paula Trousseau

Frau Paula Trousseau

Titel: Frau Paula Trousseau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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dem Zimmer und rannte die Treppe hoch. Sie riss die Tür zum Zimmer ihres Bruders auf, doch Clemens war nicht da. Sie sprang die Treppe runter zum Telefon, nahm den Hörer ab, warf ihn jedoch gleich wieder auf die Gabel, zog ihren Mantel an und lief aus dem Haus bis zum Stadtpark, durchquerte ihn und hastete dann die Lutherallee entlang bis zu dem Haus, in dem Cornelias Freundin Anne wohnte. Sie klingelte an der Wohnungstür, Annes Mutter öffnete. Paula fragte stotternd nach ihrer Schwester, die Frau sagte ihr, die beiden Mädchen seien nicht daheim und sie wisse nicht, wo sie im Moment wären.
    »Komm doch erst einmal herein«, sagte sie beruhigend, als sie bemerkte, dass Paula den Tränen nahe war.
    Das Mädchen schüttelte den Kopf, bedankte sich und eilte aus dem Haus. Für eine Sekunde verharrte sie auf der Straße, dann entschied sie sich, in die Schule zu rennen, zu ihrem Vater.
    Eine Stunde später stand ein Krankenwagen vor ihrem Haus. Zwei Pfleger trugen die auf eine Trage geschnallte Mutter heraus, schoben sie in das Auto und fuhren grußlos davon. Paula stand neben ihrem Vater, der schweigend und mit verfinstertem Gesicht dem Abtransport zugesehen hatte.
    »Geh rein. Los«, sagte er und schob seine Tochter unsanft vor sich her. Bevor er die Haustür schloss, warf er noch einen prüfenden Blick auf die Nachbarhäuser.
    Paula ging in ihr Zimmer, räumte das Notenbuch und das grüne Tuch mit den aufgedruckten Klaviertasten weg und machte sich daran, ihre Schularbeiten zu erledigen. Sie hatte gerade ihr Hausaufgabenheft aufgeschlagen, als der Vater ihren Namen durch die Wohnung brüllte. Siesprang vom Stuhl hoch und stürzte in die Küche, angstvoll blieb sie neben der Tür stehen.
    »Und wo warst du?«, fuhr ihr Vater sie an, »wo warst du und deine Schwester? Nie seid ihr, wo ihr zu sein habt.«
    »Ich war bei Frau Stuckardt, ich hatte Klavierunterricht.«
    »Klavierunterricht! Und was habe ich dir gesagt? Was habe ich dir eingeschärft? Ihr sollt auf eure Mutter aufpassen. Ihr wisst doch ganz genau, dass man sie nicht einen Moment allein lassen darf. Woher hatte sie die Tabletten?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Woher zum Teufel hatte sie die Tabletten?«
    Paula zuckte mit den Schultern.
    »Verschwinde.«
    Eine Stunde später kam Cornelia nach Hause. Sie bemühte sich, lautlos den Mantel und die Schuhe auszuziehen, doch bevor sie ihr Zimmer erreichte, erschien der Vater im Flur und rief sie zu sich. Paula vernahm die wütende Stimme ihres Vaters, kurz darauf erschien Cornelia im Zimmer, trotzig setzte sie sich an ihren Tisch und schaltete das Radio ein. Sie drehte an dem Knopf, bis Schlagermusik ertönte.
    »Mutter ist im Krankenhaus«, sagte Paula.
    Ihre Schwester reagierte nicht.
    »Sie hat wieder Tabletten genommen. Und es war keiner zu Hause«, fuhr Paula fort, »ich hatte Klavierunterricht.«
    »Na, und? Hättest du sie davon abhalten können? Ich jedenfalls nicht«, erwiderte ihre Schwester zornig.
    »Aber Vater sagt es.«
    »Ach was. Dann muss er zu Hause bleiben und auf sie aufpassen. – Wie geht es Mutter?«
    »Ich weiß nicht. Die Männer haben nichts gesagt.«
    »Sie kommt durch, es wird schon werden. Jetzt ist sie ja im Krankenhaus, dort können sie ihr helfen.«
    »Hoffentlich. Ich habe Angst, Cornelia.«
    »Ach was, Angst. Paula hat immer Angst. Sei nicht so ein Schisser.«
    »Und was wäre, wenn ich sie zu spät gefunden hätte?«
    »Dann wäre sie tot, Paula. Und eines Tages, irgendeines Tages wird sie es auch schaffen.«
    Paula sah sie erschrocken an, ihre Augen wurden dunkel, und entsetzt sagte sie: »Dann müssen wir mit Vater allein leben, Cornelia.«
    »Ja, oder wir kommen ins Heim. Wäre vielleicht besser. Die Erzieher im Heim dürfen nicht schlagen. Dafür kann man sie anzeigen.«
    Eine Stunde später kam ihr Vater ins Zimmer. Er blieb in der geöffneten Tür stehen und schaute sie beide schweigend an.
    »Kommt mal zu mir«, sagte er ungewöhnlich zärtlich zu ihnen. Er drückte seine Töchter an sich und schluchzte plötzlich laut auf.
    »Macht das Abendbrot«, sagte er, »wir haben jetzt alle etwas mehr zu tun, Kinder. Und wenn Mutter wieder daheim ist, dann müsst ihr besser auf sie aufpassen. Wir alle. Clemens wird dabei keine Hilfe sein, das wisst ihr ja.«
    Er streichelte ihnen über den Kopf und schob sie in Richtung Küche.
    In der Nacht gab es einen lautstarken Streit zwischen Vater und Clemens. Die Mädchen hatten bereits geschlafen, als ihr Bruder nach Hause kam und sein

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