Frau Paula Trousseau
Er fragte mich nicht, ob es mir recht sei, er ging wie selbstverständlich davon aus, dass ich seine Einladung annehme.
»Ich sag es dir nur, damit du hier nichts isst«, erklärte er, bevor er sich den anderen Arbeiten zuwandte. Er duzte mich, was Waldschmidt mit keinem der Studenten machte, er hatte mich vor den anderen geduzt und zum Essen eingeladen, nun wussten alle Bescheid, noch bevor irgendetwas zwischen ihm und mir begonnen hatte.
Er hatte für uns im »Dünenhaus« einen Tisch bestellt und wurde dort herzlich und unterwürfig begrüßt. An diesem Abend war er sehr charmant. Er erzählte über seine Arbeit und seine Kollegen, er brachte mich wiederholt zum Lachen, was ihm offensichtlich gefiel, er fasste dann stets nach meiner Hand. Zum Essen tranken wir Weißwein, Waldschmidt hatte mir nicht die Karte gegeben, sondern, nachdem er sich erkundigt hatte, ob ich Fisch esse, Zander beim Kellner bestellt, ihn gebeten, diesen nach einem Spezialrezept zuzubereiten, und ihm dann ausführlich die Zubereitung erklärt. Später ließ Waldschmidt eine Flasche Rotwein kommen, ich trank wenig davon, ich war es nicht gewohnt und wollte einen klaren Kopf behalten, Waldschmidt leerte die Flasche fast allein. Er sagte, er freue sich über mein Geständnis, er wisse esseit langem und sei froh, dass ich endlich den Mut gefunden hätte. Es sei für meine Arbeit wichtig, es würde mich befreien, meine Energien bündeln und ins Positive lenken, jene Energien, die ich durch Triebverzicht und Liebesverbot negativ besetzt hätte. Triebverzicht sei Liebesverrat, und das sei das Schlimmste, was ein Künstler machen könne, denn der Verrat an der eigenen Liebe träfe haargenau ins Zentrum aller Kreativität, würde den Künstler kastrieren.
»Wenn man liebt, dann soll man nicht zögern«, sagte er zweimal im Verlaufe des Abends zu mir. »Gib dich deinem Gefühl hin, verbiete dir nichts. Sich selbst die Lust und den Spaß und den Schaffensmoment verbieten, das hat der Protestantismus in die Welt und in die Kunst gebracht. Und hat uns damit zugleich Strenge, Selbstkasteiung und Diät beschert, aber so kann man nicht arbeiten, da fehlt einem die Kraft. Wenn du liebst, dann lass dich fallen und liebe, Mädchen.«
Und wenn du nicht liebst, sagte ich zu mir, dann musst du aufpassen, dass du nicht hinfällst. Ich lachte an diesem Abend viel, aber ich fühlte mich unbehaglich, als steckte ich in einer Zwangsjacke. Ich wusste nicht, warum ich ihm weisgemacht hatte, ich würde ihn lieben. Was er mir erzählte, war alles dummes Zeug. Vielleicht hatte ich ihn verunsichert, vielleicht glaubte er, mich mit diesen Sprüchen beeindrucken zu können. Er tat mir leid, und ich lachte nicht über seine Bemerkungen, sondern über ihn. Und ein klein wenig hasste ich mich selbst.
Gegen elf Uhr verließen wir das »Dünenhaus«. Auf der dunklen Straße blieb er stehen, sah mich an und küsste mich auf die Stirn. Dann nahm er meine Hand, und wir gingen zusammen in der Richtung des Ferienheims.
»Und nun? Was erwartest du von mir?«, fragte er unterwegs.
»Nichts«, sagte ich. Es war die reine Wahrheit. Es war mehr als nur wahr, in diesem Moment war es die gesamte Hoffnung meines Herzens.
Vor dem Ferienheim versuchte ich mich von ihm zu verabschieden. Ich wollte es uns beiden leichtmachen und sagte ihm, dass ich unpässlich sei, dass ich meine Tage hätte. Er schüttelte nur den Kopf, umklammerte meine Hand noch fester und zog mich zu seinem Quartier, einem Zimmer in der benachbarten Straße.
Ich stand früh auf und lief, ohne mich zu waschen, zum Strand. Es war kein Mensch zu sehen. Ich zog mich aus und rannte ins Meer. Das Wasser war eisig. Ich tauchte bis zum Hals ein und rannte zurück, um mich anzuziehen. Mit den Schuhen in der Hand erschien ich im Ferienheim. Im Haus begegnete ich nur Frau Lorenz, sie nickte mir zu und fragte, ob ich tatsächlich im Wasser gewesen sei. Ich nickte stolz und ging in mein Zimmer, um mich umzuziehen. Eine Stunde später, am Frühstückstisch, streiften mich abfällige Blicke, ich gab mich unbekümmert. Am Tisch hinter mir sagte ein Junge: »Sie weiß eben, wo Bartel den Most holt.« Ich wusste, dass ich gemeint war, drehte mich aber nicht um.
Als Waldschmidt im Ferienheim erschien, konnte ich die Spannung körperlich spüren. Die Gespräche im Frühstückszimmer verstummten nach und nach, sie verliefen sich, wie eine Welle am Strand ausläuft. Die Kommilitonen beobachteten Waldschmidt und mich, offenbar wussten alle
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