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Frau zu sein bedarf es wenig: Roman (German Edition)

Frau zu sein bedarf es wenig: Roman (German Edition)

Titel: Frau zu sein bedarf es wenig: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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mit einem winzigen Anorak und einer selbstgestrickten Pupke-Bommelmütze in Blö wieder herauszukommen. Hocherhobenen Hauptes wanderte ich durch das lange Kirchenschiff nach hinten, krampfhaft bemüht, keinem einzigen staunenden Bürger von Vlixta ins Gesicht zu sehen.
    Draußen fing ich an zu rennen. Tante Lilli rannte neben mir her.
    Deine verdammte, verfluchte Selbstverwirklichung treibt das wehrlose Kleinkind in Situationen, die un-ver-ant-wort-lich sind! Wenn es NUR eine Lungenentzündung bekommt, kannst du von Glück reden! So jemandem wie dir gehört die Erziehungsberechtigung entzogen!
    Auf dem gottverdammten Polizeirevier war alles dunkel. Der bartlose Jüngling von gestern saß wahrscheinlich zu Hause am Fleischtopf und guckte »Tatort«. Da konnte er noch was lernen. Vielleicht saß er sogar im Konzert und freute sich über meine kurzweiligen Soloeinlagen.
    Ich rüttelte verzweifelt an der Tür. Nichts rührte sich. Alles war tot. Die Kriminalität in Vlixta konnte ungehindert Blüten treiben.
    Das geschieht dir absolut recht, sagte Tante Lilli.
    Völlig verzweifelt lief ich wieder zur Kirche. Ich unglücksel’ger Atlas.
    Unverrichteterdinge kam ich mit meinem Anorak und der Mütze in Blö zurück. Wieder argwöhnten die toten Augen von Vlixta hinter mir her.
    Der Pastor hörte soeben auf zu predigen. Seine Predigt endete mit den Worten: »Jetzt ist die Altistin wieder da, amen.« Einige wenige, die zugehört hatten, lachten anerkennend. »Amen«, brabbelte die restliche Gemeinde, und das Orchester begann die Instrumente zu stimmen.
    Der Chor stand auf.
    Ich setzte mich hochroten Kopfes auf meinen Stuhl und legte den kleinen gelben Anorak und die Bommelmütze neben mich auf die Erde.
    Gerade als der Dirigent den Taktstock hob, klopfte mir jemand von hinten auf die Schulter.
    »Ich weiß, wo die Maike ist!«, sagte eine Frauenstimme an meinem Ohr. Ich fuhr herum und sah in ein warmherziges Chorsängerinnenantlitz. »Die Maike ist beim Bernd.«
    Ich hätte sie gern umarmt und geküsst.
    »Und ist es warm beim Bernd?«, fragte ich, den Tränen nahe.
    »Beim Bernd ist es warm, aber für den Rückweg braucht das Baby die Jacke«, sagte die Frau, und obwohl der Dirigent sie mit Blicken steinigte, bückte sie sich, nahm Anorak und Mütze und ging ganz selbstverständlich mit den Sachen zur Kirche hinaus, sehr zum freudigen Staunen des Publikums. Allmählich begann sich die Menge für die zwei winzigen Kleidungsstücke zu interessieren. Mal sehen, wie oft die noch raus und rein getragen würden!!
    Das Credo ertönte, und ich konnte vor Tränen nicht die Noten erkennen. So was von Zivilcourage! Diese Frau wollte ich mein Lebtag nicht vergessen! Es war so unbeschreiblich erleichternd zu wissen, dass Paulchen nun nicht mehr frieren musste! Wie ein Sack Steine fiel der Druck des schlechten Gewissens von mir ab.
    Während die feierliche Messe ihren Lauf nahm, verfiel ich in unkontrollierte Juchzer, die kein Gesangslehrer geduldet hätte.
    Kurz vor dem Benedictus kam die Frau zurück. Sie umrundete die weihrauchschwenkende klerikale Obrigkeit, schlängelte sich durch die Geigen und Bratschen, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: »Ihrem Kleinen geht es gut«, bevor sie sich wieder in den Chor einreihte. Im Publikum reckte man die Hälse. Wer von den Musikern mochte gleich aufstehen, um einen kleinen gelben Anorak und eine Bommelmütze in Blö aus der Kirche zu tragen?
    Ach wie so menschlich und wie so rührend es doch war! Kaum dass das Muttertier in mir vom Kinde Kunde hatte, schoss hormonstoßartig die Milch ein, und zwei dunkle Kreise bildeten sich auf dem Abendkleid. Sehr apart.
    In dieser Verfassung sang ich schließlich mein »Agnus Dei«, und keiner, aber auch nicht einer blieb blöden Blickes im Halbschlaf hocken. Wenn das nicht ergreifend war! Beim allerletzten »Dona nobis pacem« sah ich plötzlich den kleinen gelben Kapuzenanorak unter der bekannten Bommelmütze an der Kirchentür erscheinen. Mit Paulchen drin! Nie gekanntes Mutterglück überkam mich, und ich setzte mein letztes hohes E mit, wie der Vlixtaer Abendbote später schrieb, jubelndem Pathos an die Kirchendecke. Während der Ton noch verhallte, mischte sich ein ganz kleines, dünnes Stimmchen hinein: Paulchen hatte Hunger!
    Dreihundert Köpfe drehten sich nach hinten, und alle sahen das kleine gelbe Menschlein, das gierig an seinen Fäustchen kaute.
    »Do es jo däs Lötte«, sagte jemand, und dann brach der Beifall los.

Bleibt nur

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