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Frau zu sein bedarf es wenig: Roman (German Edition)

Frau zu sein bedarf es wenig: Roman (German Edition)

Titel: Frau zu sein bedarf es wenig: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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nervös die Hände.
    Die Sopranistin jubelte einige Dissonanzen gegen die Wand, um den Sitz ihrer Stimme abzuchecken. Der Tenor spuckte einmal kräftig aus, und der Bassist biss hektisch auf einigen Kräuterbonbons herum. Du zerbrichst sie zu Scherben, dachte ich noch, bevor sich ein großes weißes Bäuerchen auf mein schwarzes Samtkleid ergoss. Es roch ziemlich säuerlich und konnte sogar noch gegen den Weihrauch anstinken.
    »Ich müsste noch mal ganz schnell zur Toilette«, sagte ich in höchster Not.
    »Ja, aber schnell!«, sagte der Dirigent, und der Pastor meinte verbindlich, er könne ja schon mal die Begrüßungsworte sprechen gehen. Ich pflückte Paul von mir ab und drückte ihn der untätigen Maike in die Arme. In höchster Panik lief ich noch einmal ins Gemeindehaus. Draußen war es ungemütlich frisch. Ein herber Wind fegte um die Ecken.
    Als ich fünf Minuten später keuchend in die Sakristei zurückkam, war Maike mit Paul und dem Kinderwagen weg. Auf dem Stuhl lagen Paulchens Mütze und sein kleiner gelber Anorak.
    Nur eine Mutter kann ahnen, wie höllenmäßig schlecht ich mich in den nächsten zwei Stunden fühlte. Abgesehen von meiner panischen Angst vor meinem ersten brüchigen Solo-Einsatz und vor der langen, schwierigen Arie am Schluss der »Missa Bedrängnis«, wusste ich die ganze Zeit, dass mein zwölf Wochen altes Kind ohne Anorak und Mütze von einem unsensiblen Dorfkäfer durch den Sturm geschoben wurde.
    Diese dämliche Maike gehörte doch in den Dorftümpel geschubst!
    Ich überlegte die ganze Zeit verzweifelt, ob ich einfach das Podium verlassen und mit gerafften Röcken durch Vlixta laufen sollte, in der Hoffnung, mein geliebtes Paulchen zu finden. Doch der Himmel wusste, wo diese Maike sich mit ihm rumtrieb. Wahrscheinlich war sie zu ihrem Freund gegangen und ließ Paulchen irgendwo im Vorgarten stehen!
    Außerdem würde der arme Kerl in Kürze schrecklichen Hunger kriegen, hatte er doch so gut wie nichts getrunken.
    Mein erster Einsatz nahte, und ich versuchte, die düsteren Gedanken zu vertreiben. Mit zitternden Knien und noch viel stärker zitternder Stimme stand ich auf und atmete tief durch. »That’s Fegefire«, raunte mein Schweinehund, der mit zitternden, dürren Gliedmaßen unter meinem Abendkleid lauerte. »Was braucht die Welt noch Gruselfilme!«
    Während des Singens stellte ich mir ununterbrochen vor, dass mein geliebtes Würmlein vor Kälte zitternd irgendwo in einer dunklen Gegend verlassen vor sich hin schrie. Ich konnte es kaum aushalten. Aber es war doch völlig unmöglich, jetzt mitten im Konzert aus der Kirche zu rennen!
    Im Duett mit dem Sopran vermochte ich mich fünf Minuten lang abzureagieren. »Miese Röhre nobis«, jammerten wir beide um die Wette, und ich habe diese Worte niemals wieder so brünstig nachempfunden.
    Die Messe zog sich endlos hin, der Pastor befleißigte sich einer Open-end-Predigt, von der kein einziges Wort an meine Ohren drang.
    Vor mir saßen Hunderte von Vlixtaer Bürgern, und da war keiner, aber auch nicht einer, zu trösten mich … Sollte ich die Predigt nutzen, um durch Vlixtas nächtliche Straßen zu hetzen? Wie lange würde der Pastor noch reden? Wenn er noch fünf Minuten brauchte, käme ich immerhin einmal um die Kirche. Brauchte er noch zehn, könnte ich es zum Polizeirevier schaffen … Das war ein Weg! In mir spannten sich alle Muskeln. Jetzt schnell aufstehen und rauslaufen!
    Nein, jammerte der Schweinehund unter meinem Abendkleid, ich bin zu feige! Es ist so entsetzlich peinlich, vor mehreren hundert Menschen vom Solistenpodium zu flüchten!
    Los, Pauline, das bist du dem Kleinen schuldig! Hab doch mal ein bisschen Zivilcourage!
    Die Polizei soll ihn suchen und ihm seine Jacke anziehen! Wozu sind diese Burschen denn da!
    Mach ich nicht, winselte der Schweinehund. Ich halte diese Nervenkiste einfach nicht aus!
    Der Pastor predigte.
    Pauline, heb deinen Hintern! Du sitzt noch!
    Aber Paulchen hat ja immerhin das Federbett, sagte der elende Schweinehund, weil er einfach nicht die Kraft fand, unter meinem Rock hervorzukriechen.
    Es weht ein eiskalter Wind!
    Der Pastor räusperte sich. Wenn er jetzt nicht »amen« sagte, würde ich gehen. Er sagte nicht »amen«, er holte zu einem neuen, verschachtelten Nebensatzgeflecht aus.
    »Mama kommt gleich wieder«, sagte ich halblaut zum verblüfften Dirigenten, weil ich das zu Paul auch immer sagte, und dann ging ich vor dreihundert Augenpaaren rechts vorne in die Sakristei, um kurz darauf

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