Frauen lügen
Überraschung.
»Ich frage nur zur Sicherheit.«
»Lassen Sie mich nachdenken«, die Schauspielerin scheint plötzlich jede Lust an dem Konfrontationskurs verloren zu haben. »Ja, ich glaube, ich war im Hotel. Wir hatten am Freitag um 19.30 Uhr Vorstellung. Ich werde also gegen 18.30 Uhr zum Theater aufgebrochen sein, es ist nur ein Fußweg von etwa zehn Minuten.«
»Und dann waren Sie durchgängig hier?«
»Erst in der Garderobe und anschließend auf der Bühne. Ich denke, es dürfte nicht schwer sein, ausreichend Zeugen dafür zu finden.«
In Marie Nussbaums Stimme steht jetzt offener Hohn. Bevor Sven Winterberg darauf reagieren kann, kommt von hinten die ungeduldige Stimme der Regisseurin.
»Bist du bald mal fertig, Marie? Wir wollen weitermachen.«
»Bin ich fertig?« Fragend hebt die Schauspielerin die Brauen.
»Bitte.« Mit einer resignierten Geste entlässt Sven Winterberg sie auf die Bühne.
Mit den wenigen Schritten, die Marie Nussbaum braucht, um sich zwischen den Kulissen einzufinden, verwandelt sie sich vollkommen zurück in die russische Gutsbesitzerin. Mühelos gewinnt ihr Körper Elastizität und Eleganz. Der Kopf hält sich hoheitsvoll, die Augen in dem stolzen Gesicht blicken herablassend. Maries linker Arm lehnt jetzt ausgestreckt an der Türfüllung, auch ihr Körper scheint ein wenig nach links geneigt, biegsam und empfindlich gespannt. Nur der rechte Arm hängt wie abgestorben an der Schulter, die Hand öffnet und schließt sich in einer Abfolge sinnloser Impulse.
»Ich möchte nur wissen: Ist das Gut verkauft oder nicht?« Der Blick der Ranewskaja hebt sich zu dem breitesten der Kronleuchter, liebkost die Prismen und die Kerzen, um gleich darauf haltlos abzustürzen. »Das Unglück erscheint mir derart unwahrscheinlich, dass ich nicht mehr weiß, was ich denken soll …« Die rechte Hand unterbricht ihre fortwährende Bewegung, der Arm belebt sich und steigt bis auf Brusthöhe. Dann ballt sich die Faust von neuem, und der Arm sinkt kraftlos herab. »… Ich bin völlig durcheinander … Ich könnte schreien …« Leise flüsternd wird die Frauenstimme nun eine Verbündete des lauernden Blickes, den die Ranewskaja dem Studenten Trofimow sendet. »… Ich könnte eine Dummheit machen.«
Die Ranewskaja bewegt sich jetzt in einem regelmäßigen und sinnlosen Kreis um Pjotr Trofimow herum. Der Kreis bekommt Dellen und Beulen, die Gutsherrin schwankt und greift nach einem der kleinen Tische. Der erweist sich als wenig standfest und kippt um, eine Likörkaraffe zerbirst in sinnlos geschliffene, spitze Scherben. Die sattblaue Flüssigkeit sickert in die Wölbungen der Dielen. Die Schauspielerin lässt sich nicht beirren und setzt ihre Wanderung fort. Dabei stößt sie gegen das zerschlissene Sofa und strauchelt. Sie will sich im Fallen auffangen, findet aber keinen Halt mit den hohen Plateausohlen. Ihr Knöchel knickt um, und sie geht zu Boden wie ein angeschossenes Tier. Mühsam rappelt sie sich wieder auf und fasst dabei in die Flüssigkeit am Boden. Ihre Hände färben sich giftig blau. Zunächst. Doch dann mischt sich schnell ein Blutschwall in die Farbe. Die Schauspielerin gönnt dem Schnitt in ihrem Handteller nur einen kurzen, verachtungsvollen Blick, während der Darsteller des Studenten steifbeinig an seinem Platz stehen bleibt, sichtlich erstaunt über die plötzliche Intensität der Darbietung. Aus der vierten Reihe kommt die gnadenlose Stimme der Regisseurin.
»Weiter, Marie, weiter! Das ist ganz großes Kino jetzt. Lass dich bloß nicht irritieren, wir verbinden die Hand später.«
Sven Winterberg spürt, wie ihm schlecht wird. Hastig springt er auf und verlässt fluchtartig das Theater. Er hat das Gefühl, einer Ansammlung von Irren entkommen zu sein – einerseits. Zum anderen ist ihm, als habe diese neue und gänzlich fremde Welt, in die er da hineingeraten ist, seinen Blick auf ungute Weise vernebelt. Natürlich kennt er den Umgang mit Verstellung und Halbwahrheiten, die mehr oder weniger gewiefte Betrüger jedem Ermittler als Wahrheit verkaufen wollen. Doch dieser professionellen Form von Verstellung gegenüber fühlt er sich hilflos. Wie soll man da vernünftig zwischen Wahrheit und Erfindung unterscheiden? Wie soll man als Ermittler die Aussage einer professionellen Lügnerin bewerten, deren Beruf es ja gerade ist, andere Persönlichkeiten zu verkörpern und glaubhaft darzustellen?
Voller Wut über seine eigene Verwirrung zückt Sven sein Handy und wählt
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