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Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)

Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)

Titel: Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bollmann
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die neuen Vorstellungen nicht von allein in den Köpfen festsetzen, so verändern die neuen Lesegewohnheiten dieselben Köpfe dennoch mit der Zeit. Proportional zur Anzahl der gelesenen Bücher steigt auch die Ungläubigkeit der Leser, ihre grundsätzliche Skepsis. Menschen, die, wie aus Paris berichtet, in den alltäglichsten Situationen lesen, die Bücher, statt sie zu studieren, gierig konsumieren und wieder beiseitelegen, die von Neuheiten erst entzückt und dann wieder enttäuscht sind, solche Leser verlieren den Respekt vor Autoritäten und entwickeln eine kritische Haltung zu dem Gelesenen, kurz, bei ihnen ist die Lektüre vom Gebrauch des eigenen Verstandes begleitet.
    Dieser mündige Leser und diese mündige Leserin sind das Ideal eines Rezensionsorgans wie der Analytical Review . Die Zeitschrift will geeignete Kriterien entwickeln und die passende Lektüre an die Hand geben, damit sich solche Leser heranbilden können. Da die Zahl der Neuerscheinungen ständig in einem Ausmaß wächst, dass selbst ein Leben nicht dazu ausreichen würde, alles, was auf den Markt kommt, zu lesen; und da man die mit miserabler Lektüre vertane Zeit besser zur Lektüre guter Bücher nutzen kann, macht es sich eine Zeitschrift wie diese zur Aufgabe, das, was wirklich neu und bedeutend ist, zu unterscheiden von dem, was lediglich vorgibt, es zu sein.
    Fortan ist Mary in der Tat »die Erste einer neuen Art«, wie sie ihrer Schwester berichtet. Nüchtern betrachtet reiht sie sich ein in die wachsende Schar der hack writer, der Lohnschreiber, die vom Schreiben leben müssen. Aber auch können: Es ist die Grundlage für die materielle und geistige Unabhängigkeit Marys in den nächsten Jahren. Die weit über dreihundert Rezensionen, die sie in dieser Zeit für die Analytical Review verfasst, machen aus ihr die erste bedeutende professionelle Rezensentin der Mediengeschichte. Die Tätigkeit des Rezensierens kommt ihrem Bildungseifer und ihrer Entdeckerfreude entgegen: Unermüdlich wühlt sie sich durch Neuerscheinungen, die sich schon damals zu Bergen türmen, liest, fasst zusammen, kommt zu einem Urteil, nicht selten einem kritischen. Dabei bleibt sie die Pädagogin, die sie bislang gewesen ist, verlagert ihr Tun jedoch vom Bereich der Kindererziehung und des Schulunterrichts auf den abstrakteren der Unterrichtung und Kritik, letztlich auf den der »Erziehung des Menschengeschlechts«, wie es ein deutscher Aufklärer formuliert hat.
    Ein Buch lesen, um sich über dessen Qualität ein Urteil zu bilden, ist ein anderes Lesen als eines, das auf Vergnügen, Identifikation oder die Erweiterung der Vorstellungskraft zielt. Es ist ein Lesen, das unwillkürlich ins Schreiben übergeht, indem auf dem Seitenrand oder einem separaten Blatt Randbemerkungen und Kommentare notiert werden. Das Lesen wird zur Aktion; wer so liest, antwortet dem Text, er ist sein Nutznießer, womöglich aber auch sein Rivale. Ein solcher Leser vergleicht das Gelesene mit anderem Gelesenem, ordnet es ein, hebt es hervor, stellt es richtig, beurteilt es, lobt es, verurteilt es vielleicht. Wenn man so will, verliert das Lesen damit seine Unschuld. Doch wie der Typus des Gelehrten oder der des Mönchs belegen, hat dieses Lesen, das mit dem Text in ein wechselseitiges Verhältnis von Frage und Antwort eintritt, eine lange Geschichte. Sie reicht sogar weiter zurück als das »naive«, das »verschlingende« Lesen. Von dem Kulturkritiker George Steiner stammt das Bonmot, ein Intellektueller sei ganz einfach »jemand, Mann oder Frau, der beim Lesen eines Buches einen Stift in der Hand hält«. Mary Wollstonecraft also schickt sich an, eine Intellektuelle zu werden.
    Weit mehr als die Hälfte von Wollstonecrafts Rezensionen gelten der belletristischen Literatur. Zählt man, wie seinerzeit üblich, Reiseberichte und Biographien noch hinzu, bestreitet die Belletristik sogar das Gros der von ihr besprochenen Bücher. Unangefochten auf Platz eins befindet sich dabei die Romanliteratur, gefolgt von der Poesie, einigermaßen abgeschlagen ist die Dramatik, während Reiseberichte und Länderkunden, die sich beim lesenden Publikum aufgrund mangelnder eigener Mobilität großer Beliebtheit erfreuen, verhältnismäßig häufig auftauchen. Diese Rangfolge berücksichtigt sicherlich auch Marys eigene Interessen. Darin spiegelt sich aber ebenso ein literatursoziologischer Umstand wider: Romanleser sind seit Richardsons Bestsellern überwiegend Frauen, abgesehen von einem kleinen Anteil

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