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Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)

Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)

Titel: Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bollmann
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Mann ebenfalls betrogen, sich dazu aber eines anderen Partners als Rodolphe oder Léon bedient. Die Leserevolution des 18. Jahrhunderts war ein erster Schritt zur Mündigkeit der Frau in ihren privaten Belangen gewesen; doch mit Flauberts Madame Bovary breitete sich vor der Leserin ein neues weites Feld aus, auf dem sie ihre Unabhängigkeit zu beweisen und durchzusetzen hatte: das Feld der Gesellschaft, das auch im bürgerlichen Zeitalter noch die Domäne des Mannes war, wo er nach Gutdünken schaltete und waltete. Hier kam es nun darauf an, die literarisch vollzogene Emanzipation in die Realität umzusetzen: durch die Eroberung gleicher Lebenschancen. »Lesen, um zu leben« meinte jedenfalls nach Madame Bovary etwas anderes als zuvor.

Urheber unbekannt, Eugenie Marlitt: Schmuckblatt mit Porträt, 1887,
© akg-images
    Das Bürgermädchen liebte die stille, die heimliche Lektüre. Die Dame von Welt hingegen las nicht gern allein und auch nicht unbedingt selbst; dafür hatte sie eine Vorleserin, mit der sie den Lesestoff diskutieren konnte. Das laute Lesen, das sich an ein Gegenüber wendet, duldet keine Unaufmerksamkeit und keine Schludrigkeiten; es schult das Verständnis und die Lesekompetenz in besonderer Weise. Zuweilen war es auch Sprungbrett für eine Karriere – wie im Fall von Eugenie John, die es auf diesem Umweg von einer gescheiterten Opernsängerin zu einer gefeierten Bestsellerautorin brachte.

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Arnstadt, 1866
    Eine Vorleserin macht Karriere:
E. Marlitt
    Die Vorleserin , ein bezaubernder kleiner Roman des französischen Schriftstellers Raymond Jean, der auf Deutsch 1991 erschienen ist, erzählt von Marie-Constance G., vierunddreißig Jahre alt, die in einer kleinen südfranzösischen Stadt lebt und nach einer Beschäftigung sucht. Ausgestattet mit einer wohlklingenden Stimme, beschließt die ehemalige Literaturstudentin, eine Annonce in die Zeitung am Ort zu setzen: »Junge Frau kommt zum Vorlesen ins Haus. Texte nach Wahl: Romane, Sachbücher u . a.« Dahinter die Telefonnummer. Ihr erstes Engagement lässt nicht lange auf sich warten. Marie-Constance ist Vorleserin geworden.
    Vorlesen, so will es Jeans Buch, ist alles andere als eine harmlose Beschäftigung. Die Gefühle, die die junge Frau wachruft, wenn sie als verkörperte Poesie zu den Kunden ins Haus kommt, entgleiten rasch ihrer Kontrolle. Und die Begehrlichkeiten, die sie weckt, richten sich nur allzu schnell auf ihre Person. Der Rat ihres ehemaligen Professors, sie solle sich ans Vorlesen halten und nur daran, denn das habe sie schließlich zu ihrem Beruf gewählt, ist leichter erteilt als umgesetzt: Alle ihre Kunden projizieren ihre Wünsche auf sie. Bei Männern, einerlei ob jungen oder alten, sind diese zumeist erotischer oder sexueller Natur. Eine bettlägerige Generalswitwe hingegen, die sich Karl Marx als Lektüre wünscht, möchte gemeinsam mit der Vorleserin ihre revolutionären Neigungen ausleben, die sie zu Lebzeiten des Gatten stets im Verborgenen gehalten hat. Ausnahmslos bleibt das gelebte Leben der Kunden der Vorleserin hinter den Erwartungen zurück, die sie einmal gehegt haben oder noch hegen. Und die gewählte Literatur in Verbindung mit der schmelzenden Stimme und der Attraktivität der Vorleserin ist der ersehnte Auslöser, um die geheimen Wünsche von der Leine zu lassen.
    Vorleserin, eine Zeitlang ein beinahe ausgestorbener Beruf, gehört mittlerweile wieder zu den Tätigkeiten, die von Frauen professionell angeboten werden, bei Festen, Betriebsfeiern, sogar Kindergeburtstagen. Vorleserinnen sind oder waren im Hauptberuf zumeist Schauspielerinnen oder Lehrerinnen und verfügen über ein reichhaltiges Leserepertoire – je nach Kundenwunsch und Anlass reicht es von Märchen über »erlesene Weihnachten« bis hin zu Liebe & Wein. Es gibt aber auch ehrenamtliche Vorleserinnen, die in Hospitalen oder Pflegeheimen mit Kranken und Alten ihre Liebe zur Poesie, zu Klang, Rhythmus und Reim teilen.
    Hüten sollte man sich allerdings davor, gleich von der Renaissance eines Berufsbildes zu sprechen: Vorleserin, das war von jeher eine prekäre, ungelernte Beschäftigung, die in der Regel neben anderen ausgeübt wurde oder dann, wenn einem nichts anderes übrigblieb. Das Werk , Émile Zolas 1886 erschienener Roman über den modernen Künstler, beginnt mit der Ankunft Christines, einer achtzehnjährigen Waisen, in Paris. Sie soll bei Madame Vanzade, einer alten, sehr reichen Generalswitwe in Passy, eine Stelle als Vorleserin antreten.

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