FreeBook Nomenclatura - Leipzig in Angst
Hemmschwellen mehr.
Hinrich setzte sich vorn an das Pult. „Könnten Sie bitte für fünf Minuten schweigen?“, forderte er mit lauter Stimme, denn einige Redakteure schien seine Anwesenheit nicht im Geringsten zu stören. „Guten Morgen.“ Endlich war Ruhe.
„Auch ich begrüße Sie“, meinte Ralf Lehmann. „Wer mich nicht kennt, ich bin Ralf Lehmann, Pressesprecher der Leipziger Polizei. Es geht heute um den Entführungsfall des neunjährigen Jungen Erik Schwarz aus Leipzig. An dem Fall wird mit höchster Sorgfalt gearbeitet. Noch in der Nacht wurde eine SoKo ERIK gebildet, die Kriminaloberkommissar Hinrich leitet. Natürlich ist es noch sehr früh, zwölf Stunden nach der Entführung genaue Angaben zu machen. Über einige Dinge informiert Sie Kriminaloberkommissar Hinrich jetzt sofort, dann muss er zurück an seine Arbeit, Sie können mich anschließend mit Fragen bombardieren. Bitte, Herr Kriminaloberkommissar.“
Hinrich räusperte sich. Bei seinen ersten Sätzen schaute er Ute Vogel fest in die Augen. Er sie diese Frau noch niemals lächeln. „Ich freue mich, dass die Medien auch in diesem brisanten Fall mit der Kripo Leipzig zusammenarbeiten werden. – Am gestrigen Abend verschwand der neunjährige Junge Erik Schwarz vor dem elterlichen Hause. Ein erster Verdacht gegen den Vater des Jungen zerschlug sich, der Mann hat ein hundertprozentiges Alibi. Derzeit gibt es keinerlei konkrete Hinweise. Die Spurensicherung, die in der Nacht fieberhaft arbeitete, kann erste Erfolge aufweisen. Wahrscheinlich handelt es sich um eine gewalttätige Entführung, wie Spuren bewiesen. Der Entführer fährt wahrscheinlich einen Mercedes Marke Sprinter, älteres Baujahr und ist Raucher. Anhand gefundener Zigarettenkippen ist es uns wahrscheinlich möglich, die DNA des Täters zu ermitteln, das Ergebnis erwarten wir in zwei Tagen. Sollte der genetische Fingerabdruck des Täters in einer Datei dieser Welt erfasst sein, haben wir seine Identität. Wenn nicht, könnte es zu einer Massenkontrolle kommen. Über die Hintergründe der Tat gibt es keinerlei gesicherte Hinweise, auftauchende Philosophien sind Fantastereien der Autoren. Zur Zeit bewegt sich eine 500 Mann starke Sucheinheit aus Polizei und Bundeswehr durch die Wälder der Südvorstadt. Die Suche wird in jedem Fall drei Tage fortgesetzt und auf ganz Leipzig ausgedehnt, wenn das Kind bis dahin nicht gefunden wird. Aus der Bevölkerung kamen bis jetzt keinerlei Hinweise zu diesem Fall. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.“ Mit diesen Worten erhob sich Hinrich und verließ den Raum, ohne sich auch nur kurz umzudrehen.
Der kleine Erik Neubauer hatte wohl den längsten Fußweg von allen Schulkindern der Wiederitzscher Grundschule. Wiederitzsch ist ein Vorort von Leipzig, wenigstens war es einer, bis zur Zwangseingemeindung. Ulrich Neubauer, der Vater des Neunjährigen, wurde erst nach den Kämpfen gegen diese Eingemeindung in den Ortschaftsrat gewählt und galt als bürgernaher Vertreter. Ihm gehörte eine freie Autowerkstatt mit fünf Mitarbeitern am anderen Ende von Wiederitzsch, dort, wo sich die Bundesautobahn 14 dröhnend über den lärmgeplagten Ort schob.
Erst vor vier Jahren wurde das Einfamilienhaus in der Kirchstraße 88 fertig. Völlig obskur war, dass hinter der Kirche, zu beiden Seiten der kleinen Straße, nur jeweils vier Häuser standen, dann kamen riesige, verwilderte Bauländereien und ganz am Ende der Sackgasse stand das leuchtend weiße Haus mit der großen 88 davor. Die Firma, der das Land gehörte, ging pleite, die Eigentumsfragen galten nun als ungeklärt, die Baugenehmigungen zunächst auf Sand gesetzt. Nun wuchs die Straße zu, niemand kümmerte sich um das Brachland. Und wer nicht wusste, dass ganz am Ende noch ein Haus stand, der würde es niemals dort vermuten.
Erik Neubauer bemerkte nicht, dass er von einem Mann beobachtet wurde. Der schlanke, flinke Junge kam eilig aus dem Schulhaus, unterhielt sich kurz mit zwei Mädchen, dann machte er sich auf den langen Fußweg nach Hause. Es war fast Mittag und die „Schlüssel“-Kinder durften allein nach Hause gehen. Eine Stunde später würde es in der Schule Mittagessen geben, doch Erik bekam zu Hause sein Essen, denn die Mutter des Kindes kam gegen ein Uhr und sorgte für Erik.
Also sprang der Junge über die Pfützen, hielt dabei seinen Ranzen mit beiden Händen an den Riemen fest.
Der Mann mit der großen, dunklen Brille, einem Sportcape, einem Schnauzbart und einer Arbeitskombi, über
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