Freiflug (Die Ratte des Warlords II) (German Edition)
lässt? Was bist du geworden? Fühlst du überhaupt noch etwas?"
" Was wir beerdigt haben, waren ein paar Kohlenstoffverbindungen, etwas Kalzium und Wasser." Kepler sah seinem Bruder schwer in die Augen. "Es war nicht Oma, Jens. Sie ist hier", er berührte seine Brust, "für immer. Und wenn es etwas gebracht hätte, ich wäre für sie gestorben."
Er leerte die Bierflasche und stand auf. Im Rausgehen hörte er Sarah sprechen.
"Er würde es wirklich tun, Jens", sagte sie. "Er würde für dich, für mich und für unseren Sohn und sogar für diesen dummen Pastor sterben."
Ihre Worte machten es Kepler etwas leichter. Trotz allen Kummers fand Sarah immer Kraft, anderen Wärme zu geben. Sie war wie Oma, es war tröstlich, sie einfach nur in der Nähe zu haben. Kepler zündete eine Zigarette an und inhalierte tief. Dann hörte er Sarahs leichte Schritte hinter sich.
"Du hast keine Angst vor dem Tod , mein Kleiner, nicht wie wir anderen." Sie umarmte ihn. "Es ist das Leben, das dir zu schaffen macht, nicht wahr?"
"Ich weiß besser als ihr alle, wie zerbrechlich das Leben ist", sagte Kepler dumpf. "Oma war krank und trotzdem habe ich nur an mich gedacht." Er warf die Zigarette weg. "Ich mache nie etwas richtig, ich kann nur vernichten."
" Blödmann. Weißt du, was sie mit Sicherheit gewusst hat?" Sarah sah ihm in die Augen. "Dass du sie geliebt hast."
Sie streichelte sanft über seine Wange und zum ersten Mal seit vielen Jahren spürte Kepler Tränen in seinen Augen.
" Mehr als mein Leben, Sarah."
"Sie hat dich auch geliebt . Sie hat dich sehr geliebt, mein Kleiner."
11. Kepler blieb nicht über Nacht, als er Melissa am Samstag eine Woche später besuchte. Sie versuchte, ihn zu trösten, weil seine Lippen sich angeblich kalt anfühlten und weil seine Augen leerer und härter blickten, und weil ihr Blau eisiger geworden war. Kepler zuckte die Schultern und versprach, bald wieder wie früher zu sein.
Obwohl sein Bruder Recht damit hatte, dass seine Gefühle seit Afrika völlig atrophiert waren, machte Omas Tod Kepler mehr zu schaffen, als Jens sich vorstellen konnte. Um sich mit dem Gedanken zu arrangieren, dass Oma nicht mehr da war, brauchte Kepler länger als bei Katrin, auch wenn er mit diesem Verlust besser klarkam, als Sarah und vor allem als Jens.
Im Sudan hatte er ein Ziel vor Augen gehabt, deswegen hatte er Katrins Ve rlust verkraften können. Jetzt brauchte er wieder eine Ablenkung.
D ieses Mal halfen ihm das Internet und Bremen dabei.
Kepler verbrachte Stunden vor seinem Laptop und eliminierte jeder Erinnerung und jedes Nachdenken, indem er sich den Kopf mit Wissen vollstopfte. Er las aufs Geratewohl einen Artikel, der ihn halbwegs interessierte und folgte danach jedem Link oder jedem Querverweis darin. Er verinnerlichte jede Information unabhängig vom Thema, nur Kindererziehung und abstrakte Kunst interessierten ihn überhaupt nicht.
Um die Details aus der Frühgeschichte des Planeten, biologische Paradoxa, technische Daten von Fahrzeugen und Waffen, Berichte aus allen Teilen der Welt und neu erlernte Vokabel im Gedächtnis zu behalten, machte er nach einigen Stunden den Computer aus und verließ die Wohnung.
Er streifte durch die Anonymität der Straßen und kam sich vor wie ein Beobachter hinter einer dicken Glaswand, durch die das Licht und die Geräusche nur gedämpft durchdrangen. Er betrachtete die Welt um sich herum ohne sich mit ihr zu identifizieren, ohne sich von ihr berühren zu lassen, ohne sich ihr zugehörig zu fühlen. Abends suchte er einen abgeschiedenen Platz in einer Bar, beobachtete das Treiben um sich herum und rätselte, was die Menschen antrieb. Ob es dasselbe Streben nach Erfolg war, das Abudi zu einer Bestie hatte werden lassen, oder ob es noch Ideale gab, die gut waren. Er konnte nicht lange in den Lokalen aushalten und streifte bald wieder durch die Straßen.
Dieses seltsame Spiel, das er spielte , um etwas zu tun zu haben und der Sinnlosigkeit zu entfliehen, ließ ihn nicht los. Er verbrachte Stunde um Stunde im Hafen, kurz davor, mit dem nächsten Schiff wegzufahren. Dann fragte er sich, wohin. So fuhren die Schiffe weg, er blieb zurück, und seine ungestillte Sehnsucht wurde noch größer. Kepler konnte sein unbestimmtes Bestreben in kein klares Ziel verwandeln, deswegen ging er immer wieder zurück nach Hause.
Mit Melissa traf Kepler sich nicht öfter als einmal in der Woche. Meistens fuhr er zu ihr, hin und wieder besuchte sie ihn.
E r brauchte Melissa, um zu
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