Freiflug (Die Ratte des Warlords II) (German Edition)
erleben, er nannte es die Wetterfluktuation. In der warmen Jahreszeit besuchten sogar die Stammkunden die Schule seltener, man verbrachte seine Zeit lieber draußen. Wenn das Wetter ungemütlich wurde, kamen die Leute wieder.
Kepler ging es ähnlich. Er ging gegen Mittag zur Schule, übte mit den Kindern, am Abend fand das Schwerttraining statt, danach saß er mit Marco und Daijiro noch in der Bar. Anschließend lief er nach Hause, duschte, und streifte wieder durch die schattenhaften Straßen der nächtlichen Stadt.
Er fühlte sich nichts und niemandem verbunden , aber er war nun mal ein männliches Wesen und verspürte immer öfter das Bedürfnis nach einem Moment der Nähe zu der weichen Zartheit einer Frau. Vielleicht lag es auch an der Frühlingsluft, oder auch an der Kombination von beidem.
Kepler wollte keine richtige Beziehung, aber er wollte, zumindest im Moment, den Sex auch nicht kaufen. So begann er bei seinen nächtlichen Ausflügen in Bars und Kneipen einzukehren, dann dehnte er seine Suche auf Discos aus.
Das erste Mal war ein Schock. Kepler latschte blauäugig in den erstbesten Schuppen. Der Türsteher ließ ihn zwar wortlos herein, sah ihn aber dabei sonderbar schief an. Eine Minute später wusste Kepler, warum. Der Mann hatte ihn wahrscheinlich für einen besorgten Vater gehalten, die Disco war voll mit Menschen, die nicht einmal halb so alt waren wie er. Kepler verließ fluchtartig den Laden, mit dem belustigten Gedanken, dass ihn in Afrika nicht einmal der Ansturm von zwanzig Bewaffneten so aus der Fassung gebracht hatte, wie die Art der jungen Leute hier. Seitdem besuchte er nur Veranstaltungen, die unübersehbar mit Ü30 überschrieben waren.
Kurze Zeit später machte er einen Klub ausfindig, der ihm gut gefiel. Zudem lag der Klub in der Nähe der Baumwollbörse, zwei Gehminuten vom Ufer der Weser entfernt. Kepler konnte zu Fuß hingehen, was er sehr schätzte. Nicht wegen des Trinkens, sondern weil er keinen Parkplatz zu suchen brauchte.
Der Klub war eindeutig auf die besserverdienende Schicht der Dreißigjährigen ausgerichtet. Kepler gefiel auch das, obwohl ihm so etwas sonst gleichgültig war. Die Musik war nach seinem Geschmack und nicht zu laut. Die Frauen waren gutaussehend, doch ohne den hohlen Ausdruck im Gesicht. Die Atmosphäre war leger, elegant, aber nicht geziert, und die Getränke zwar nicht billig, aber auch nicht gepantscht.
Allerdings achtete man hier auf die Garderobe, in seiner übl ichen Aufmachung konnte Kepler hier nicht herein. Das konnte er in keiner Disco, aber einen Anzug wollte er nicht kaufen müssen.
Zu seinem Glück geriet er beim Versuch, angemessene Kleidung zu erwerben, an den richtigen Verkäufer. Der Mann hatte bemerkt, dass Kepler die Sachen mit kaum verhohlenem Argwohn ansah, und fragte, für welche Angelegenheit die Kleidung sein sollte. Kepler erzählte ihm von dem Klub, und es stellte sich heraus, dass der Verkäufer dort Stammgast war.
Er kreierte für Kepler im Laufe der nächsten zwei Stunden mehrere elegante Outfits, die ihm besser zusagten als ein Anzug. Dabei stellte sich heraus, dass der Verkäufer die gleiche Musik wie er mochte und ähnliche Ansichten im Bezug auf Frauen hatte – fassungsloses Unverständnis, das an Anbetung grenzte.
E rschöpft aber zufrieden, versprach Kepler dem Verkäufer, die erwiesenen Dienste an der Bar des Klubs wieder gutzumachen und verließ den Laden.
M it mehreren Tüten in den Händen kam er sich wie ein Schnösel vor, und eilte deswegen zu Boden blickend nach Hause.
21. Der Morgen darauf begann mit einer Anspannung wie Kepler sie im Dschungel gehabt hatte, wenn er spürte, dass bald ein Gefecht losbrechen würde, obwohl alles friedlich und ruhig schien.
Hier war es seltsam , weil völlig unnatürlich. Kepler schüttelte das Gefühl ab und konzentrierte sich auf das Training. Als er sich mit dem Shoto gegen Daijiro verteidigte, der ihn mit einem Bokuto angriff, vergaß er das Gefühl völlig.
Nach dem Training saßen Daijiro und er an der Bar , unterhielten sich und tranken Orangensaft. Dann gesellte Marco sich zu ihnen.
Der Sechsundzwanzigjährige studierte Sport auf Lehramt, arbeitete im Shop, trainierte Karate, betreute eine Seniorengruppe, die in der Sportschule einmal pro Woche Bewegungstraining absolvierte, und schrieb an einem Buch über Kenjutsu. Daneben fand er Zeit, japanische Philologie zu studieren, wobei er sich nicht nur mit der Sprache, sondern mit der gesamten japanischen Kultur
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