Freiflug (Die Ratte des Warlords II) (German Edition)
zurückhaltender, etwas kränklich aussehender Junge in die Sportschule. Er sah verwirrt aus und wusste anscheinend nicht genau was er wollte. Daijiro nahm sich sofort seiner an und der Junge folgte misstrauisch seinem Rat, an Keplers Training teilzunehmen.
Seitdem kam er jeden Tag. Er machte alles so gut er konnte und gab nicht viel auf die manchmal beleidigenden Kommentare der anderen. An den drei Tagen, an denen kein Training seiner Gruppe stattfand, übte er für sich allein, indem er Kepler und anderen Erwachsenen die Bewegungen abschaute und sie nachmachte. Danach blieb er bis abends da, unterhielt sich mit Yoko und machte seine Hausaufgaben. Die Sportschule verließ er meist sehr spät und ungern.
Besorgt fragte Kepler nach einigen Tagen nach dem Grund. Nico antwortete, dass er sich in der Sportschule wohlfühlte, allein zu Hause nicht. Seine Eltern waren geschieden, seine Mutter musste oft bis spät arbeiten.
D er Junge machte trotzdem immer einen sehr gepflegten Eindruck, seine Kleidung war nicht luxuriös, aber gut. Er besuchte ein Gymnasium und lernte gut, soweit Kepler das beurteilen konnte, als er Nico etwas später bei den Hausaufgaben half. Es war anscheinend etwas anderes, was den Jungen hier hielt. Weil Nico keine richtigen Freunde zu haben schien, war es wohl die Atmosphäre der Sportschule, die ihn genauso wie Kepler anzog. Und schließlich war er zehn und Schicksalsschläge wie die Trennung der Eltern ließen ein Kind schnell erwachsen werden. Es tat Kepler leid, dass der Junge ohne Vater aufwuchs, aber er war beeindruckt davon, wie Nico damit umging. Er machte seiner Mutter keine Vorwürfe, weil sie kaum da war, sondern bewunderte sie für das Leben, das sie ihm ermöglichte, und freute sich, wenn sie Zeit für ihn hatte.
Mit der Zeit wurden Kepler und Nico so etwas wie Freunde. Neben dem Sport hatte der Junge noch ein Hobby, er las gern. Seine Mutter brachte ihm Englisch bei, und weil ihm besonders die Bücher von Tom Clancy gefielen, las er sie im Original. Kepler und er hatten Spaß daran, Englisch miteinander zu sprechen. So hatten sie beide Übung darin und andere Schüler, Jungendliche wie Erwachsene, blickten Nico anerkennend an, was dem Jungen sichtlich gut tat.
Genauso gern wie sich mit ihm zu unterhalten, wiederholte Nico seine Bewegungen, wenn Kepler allein trainierte, nachdem er um Erlaubnis, das zu tun, gefragt hatte. Nico freute sich jedes Mal, wenn Kepler das eigene Training unterbrach, um ihn anzuweisen. Der Junge hätte gern den Sparringpartner für Kepler gemacht, aber das hatte Kepler kategorisch abgelehnt.
O bschon er Nico angeboten hatte, dass der Junge ihn außerhalb des offiziellen Unterrichts duzen könne, hielt Nico es sehr genau mit der traditionellen asiatischen Beziehung zwischen Meister und Schüler und redete Kepler immer per Sie an. Kepler lebte ihm diese Beziehung vor, und sein eigener respektvoller Umgang mit Daijiro war für Nico anscheinend ein prägendes Beispiel.
Es war keine große Last, die Kepler sich damit aufgebürdet hatte, dass er Kinder trainierte, aber sie war ungewohnt. Es machte ihm einerseits sogar ein wenig Spaß, andererseits erschreckte die Verantwortung ihn. Er hatte überhaupt keine Ahnung, wie er mit Kindern umgehen musste.
19. Als Kepler mit dem Schwerttraining angefangen hatte, waren seine Lustlosigkeit und Leere, die nach Omas Tod, Jens' Auswanderung und Verlust Melissas stärker geworden waren, fast verschwunden. Zu Beginn des Frühlings kehrten diese Empfindungen irgendwie verstärkter zurück. Kepler fühlte sich so, als wenn er einen tiefen Atemzug eisiger Luft gemacht hätte, mit weit offenem Mund fassungslos dastand, und nicht einmal schreien konnte.
Was ihn diese Gemütsverfassung ertragen ließ, waren das Training, und, sel tsamerweise, die stille Bewunderung des zehnjährigen Jungen.
An einem Donnerstag abend wollten Kepler und Nico nach dem Training noch Orangensaft trinken, bevor sie die Schule verließen. Sie waren die einzigen Besucher in der Bar, abgesehen von einem Pärchen. Für die beiden existierte nichts, als nur die Augen des anderen. Yoko wischte gelangweilt den Tresen, das schöne Wetter hatte die üblichen Besucher in den Bürgerpark getrieben.
Kepler hatte schon seit Tagen das Gefühl, dass Nico ihn etwas fragen wollte, sich aber zurückhielt, weil immer jemand in der Nähe gewesen war. Nachdem Yoko ihnen zwei Gläser mit frischgepresstem Orangensaft serviert hatte und zurück zu ihrer blanken Theke
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