Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom
Platz machen: Bana göre hava hoş - das Wetter ist schön!
Ich schloss die Augen. Im Bruchteil einer Sekunde zoomte mein Bewusstsein zurück in die Kindheit. Ich saß vor
meinem geöffneten Wunschfenster und träumte mich hinaus in die große, weite Welt. Aber jetzt war ich nicht mehr das kleine Mädchen mit den großen Träumen, sondern die erwachsene Ayşe mit einem konkreten Ziel: Ich wollte diesen Award! Ich würde das unmöglich Erscheinende möglich machen! Instinktiv tat ich etwas, das ich seither als meine spezielle Erfolgsmethode praktiziere. Wenn ich mir etwas vornehme, das mir wichtig ist, dann visualisiere ich meine Schritte zum Erfolg so konkret und so intensiv wie möglich. Hier war es gar nicht besonders schwer, denn alle Phasen auf dem Weg dorthin waren ja in der Ausschreibung bis in die Einzelheiten beschrieben.
Phase 1: Wir brauchen ein Model. Sie muss eingekleidet, frisiert und professionell fotografiert werden. Mit der Fotoserie bewerben wir uns für die Endausscheidung im Bundesland Hessen.
Phase 2: Die Jury nimmt unsere Aufnahmen - bei Hunderten von Einsendungen - unter die 20 besten auf. Dies berechtigt uns, am Landesfinale in Frankfurt teilzunehmen.
Phase 3: Beim Landesfinale, einer öffentlichen Bühnenveranstaltung, kommen wir mindestens auf Platz drei. Damit qualifizieren wir uns für das Kölner Bundesfinale.
Phase 4: Beim Bundesfinale, einer Gala vor großem Publikum, unter den Augen der ganzen Fachwelt, erringen wir die Trophy !
Alles steht mir sehr klar und deutlich vor Augen. Bis hin zu dem Moment, da ich den Preis in die Hand gedrückt bekomme. Denn das ist ganz entscheidend: Ich muss tatsächlich alles super-konkret, bis in alle Einzelheiten, vor
meinem inneren Auge sehen. Und meine Gedanken voll und ganz auf den gewünschten Erfolg einstellen. In diesem Moment wenigstens darf nicht das Fitzelchen eines Zweifels in mir sein! Und danach, während der praktischen Durchführung, am besten gar nicht daran denken, ob es klappen wird oder nicht. Einfach den Weg gehen. Einen Schritt nach dem anderen. So einfach ist das, und es hat für mich immer wieder funktioniert.
Aber habe ich jetzt nicht doch etwas vergessen? Na klar, nennen wir es »Phase Null«: Zuallererst muss ich meine Schwester für das Projekt begeistern! Wie wird sie wohl reagieren? Ich erwarte Skepsis, doch als ich ihr davon erzähle, renne ich offene Türen ein. Sie ist sofort Feuer und Flamme! Wann habe ich von ihr zuletzt diesen spitzen Jubelschrei gehört?
»Das ist doch genau unser Ding, Ayşe!«
Ich verstehe: Sie hat ihren Traum, Modedesignerin zu werden, also doch noch nicht aufgegeben. Gut für sie - und gut für uns beide. Schon meldet sie ihren Anspruch auf den Entwurf des Outfits an. Soll mir recht sein.
»Dann übernehme ich die Coloration und den Haarschnitt.«
Somit sind wir uns einig. Auf der nächsten Teamsitzung haben wir keine Mühe, unsere Begeisterung auf die anderen zu übertragen. Die Ideen sprudeln nur so!
Ich notiere sämtliche Bemerkungen und Vorschläge, ohne jeglichen Kommentar. Jeder soll wissen, dass sein Beitrag ernst genommen wird. Eine Bewertung nehmen wir in Ruhe vor und besprechen alles gemeinsam. Hatice aber denkt schon weiter als wir alle.
»Die ganze Sache steht und fällt mit dem Model. Das ist ja wohl klar.«
Wenn sie recht hat, hat sie recht. Wir sind ein starkes Team - aber wir haben noch kein Gesicht, das uns vertritt. Ein Mädchen mit Ausstrahlung. Eine, die auch menschlich zu uns passt.
Schon tags darauf blättern wir die Fotokarteien der einschlägigen Modelagenturen durch. Und werden nicht fündig. Wie könnte es auch anders sein? Wir sind eben besonders, und wohl auch etwas diffizil. Der nächste Tag. Wir suchen immer noch. Und einen weiteren Tag. Ich beginne mir langsam Sorgen zu machen, da knufft mich Hati in die Rippen.
»Du, ich glaube, ich habe sie!«
Anja. Ein deutsches Mädchen, das in London lebt. Ihr Honorar ist für unsere Verhältnisse - wie sollte es anders sein - natürlich, eigentlich und überhaupt viiieeel zu hoch. Doch wir beide wissen auf Anhieb: Die oder keine!
Hati übernimmt die Führung. Hier ist sie ganz in ihrem Element.
»Ayşe, du sagst doch immer: Wenn schon, denn schon. Willst du jetzt etwa einen Rückzieher machen?«
Also, dann soll es sein! Diese Anja gönnen wir uns. Wenigstens das Casting bei uns im Salon. Ein paar Tage später ist sie dann da. Als sie zur Tür hereinkommt, schauen wir uns nur an und wissen: Das ist sie! Dieses
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