Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom
abgebrochen. Aber sie hatte sehr wohl auch mein Interesse im Auge. Das bewies sie, als das Leben ganz unvermittelt wieder in Form eines jungen Mannes an mich herantrat. Eines ganz bestimmten jungen Mannes.
Erst fällt es mir nicht auf, weil ich ausschließlich mit mir selbst beschäftigt bin, aber irgendwann ist es einfach nicht mehr zu übersehen. Unser Nachbar kommt immer öfter vorbei und flirtet mit mir.
»Wollen wir nicht mal zusammen ausgehen, wir zwei beiden?«
Ich reagiere nicht. Ich habe zurzeit wirklich keine Augen für einen Mann. Der Schock sitzt tief.
Aber das scheint diesen jungen Herrn wenig zu stören. Ich versuche mich in die Gedanken des Menschen, der die Macht über mein Leben an sich gerissen hat, hineinzuversetzen.
Welche Pläne würde er jetzt wohl für mich schmieden? Gefallene Mädchen müssen schleunigst verheiratet werden, um die Ehre der Familie wiederherzustellen, nicht wahr? Und dieser junge Mann hier rechnet sich womöglich schon gute Chancen aus, weil unsere Familien freundschaftlich miteinander verbunden sind.
Naimes Wohnung ist ausgesprochen hellhörig, und ich bekomme tatsächlich mit, wie er bereits dabei ist, sie zu bearbeiten.
Er legt sich mächtig ins Zeug, damit sie bei meinem Vater etwas tut, das man Baş göz etmek - Kopf und Auge machen nennt: auf Brautschau für ihn gehen. Aber Naimes Reaktion ist eindeutig:
»Das kannst du abschreiben, Ayşe hat viel zu viel mitgemacht. Sie ist noch nicht bereit für eine neue Beziehung.«
Ein Mensch, der mich versteht! Und der zu mir hält! Naime Abla , meine ältere Schwester! Ich konnte es kaum glauben.
Ein türkisches Mädchen sollte sich aber immer davor hüten, ihren Vater nicht mehr auf der Rechnung zu haben. Denn wie lautet die Regierungserklärung des Familienoberhaupts gegenüber seiner Tochter?
»Es ist meine oberste Pflicht, die Ehre meiner Sippe zu wahren, und Ehre geht in unserem Lande vor Liebe - das müsstest du doch wissen.«
Wenn mein Vater so etwas von sich gab, reagierte ich nicht selten mit offener Rebellion. Wenn er aber die Rolle des obersten Patriarchen mit Herz und Grandezza spielte, schmolz ich ebenso regelmäßig dahin. Ich habe lernen müssen, dass zwei Seelen in meiner Brust wohnen, und ich
werde nie dabei auslernen, wie ich am besten damit umgehen soll. Es kommt mir selbst merkwürdig vor, aber ich bin nun mal so. Heute stehe ich dazu.
Ich habe meinen Vater geliebt.
Ich habe meinen Vater geachtet.
Ich habe meinen Vater gefürchtet.
Und ja, eine Zeit lang habe ich ihn gehasst.
Jetzt aber habe ich ihm verziehen.
Und liebe ihn mehr als zuvor.
Türkische Seifenoper mit Gretchenfrage
Susurluk, Westtürkei, im Jahr 1986
N aime legt den Telefonhörer auf. Sie scheint überrascht.
Eine wichtige Mitteilung? Ihr Ton ist ernst.
»Ayşe, du musst mit in die Türkei, Oma ist krank. Vater lässt dich bitten, dass du ihm hilfst.«
Auf einmal fühle ich mich, als hätte ich einen Schlag in die Magengrube erhalten.
»Was ist denn? Was hat sie?«
»Ich weiß es nicht, er hat es nicht gesagt. Aber es dürfte schon etwas Ernstes sein, sonst müsste es nicht so schnell gehen. Du sollst dich noch heute Abend für die Abreise fertig machen. Morgen früh fliegt ihr.«
Bir şeyin kokusunu almak - ich nehme einen Geruch wahr.
Wenn bei uns die dritte Tochter um Hilfe gefragt wird, in einer Angelegenheit, bei der es angeblich um Leben oder Tod gehen könnte, dann ist etwas oberfaul.
»Warum ausgerechnet ich?«
»Ganz einfach. Du bist aktuell eben die Einzige, die abkömmlich ist.«
Blitzschnell spule ich gedanklich die Helferhierarchie ab. Die Brüder werden nicht herangezogen, um Oma zu pflegen, das ist schon mal klar. Aynur und Naime haben kleine Kinder zu versorgen. Hatice muss in ihren Friseursalon,
Cavidan geht aufs Gymnasium. Stimmt. Da bleibe ich als Einzige übrig. Naime hat recht. Und wieso sollte ich ihr misstrauen? Sie hat doch bewiesen, dass sie zu mir hält.
Außerdem hänge ich im Moment sowieso in der Luft, und mein Alltag besteht nur aus Banalitäten. Fliege ich eben mit und helfe ein bisschen.
Ich packe meine Siebensachen. Da ist nicht viel, die paar Kleider, die ich besitze, liegen ja noch im Frauenhaus in Hannover. Eine Jeans, zwei T-Shirts, eine Jacke, Zahnbürste - fertig. Ich gehe zeitig ins Bett. Aber ich schlafe ganz schlecht. Das ungute Gefühl, das mich seit dem Anruf befallen hat, nagt weiter an mir. Kann ich meinem Vater ins Herz sehen? Weiß ich, was er vorhat?
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