Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom
das nur ein? Bekir, eine Decke! Ja, wo steckst du denn, Bekir?!? Und warum ist der Notarzt noch nicht da!
Minuten, die zur Ewigkeit gefrieren, während in mir ein Vulkan ausbricht und Angstlava spuckt. Wieder und wieder
rufen wir in der Notrufzentrale an. Warum dauert es bloß so lange? Das Krankenhaus ist doch nur ein paar Autominuten entfernt …
Endlich stürmt das Notarztteam herein. 20 Minuten nach meinem ersten Anruf! Ich bin mittlerweile so verzweifelt, dass ich sie aggressiv anbrülle … Ein Krankenpfleger nimmt mich beiseite, damit der Arzt seine Arbeit ungestört beginnen kann …
Ich sehe mit an, wie mein Junge sich unter den Schlägen der Elektroschocks aufbäumt. Jedes Mal fällt der kleine Körper sofort danach wieder in sich zusammen. Leblos. Ohne eigene Kraft.
Schließlich stellt der Arzt seine Bemühungen ein. Ich weiß es längst: Es gibt keine Hoffnung mehr …
Cem …
Mein Sohn ist … tot!
Mir wird schwarz vor Augen. Ich verliere das Bewusstsein.
Die nächsten Tage sitzt der Schock so tief in mir fest wie ein Korken in der Flasche. Zwischen mir und der Welt eine Wand aus dickem Glas. Ich bin am Leben, aber doch leblos. Stecke abgrundtief in einem dumpfen Schmerz. Wie auf Autopilot geschaltet vollziehe ich die notwendigen Schritte. Der Arzt hat mir geraten, Cem obduzieren zu lassen, um auszuschließen, dass er an einem erblichen Herzfehler gestorben ist, der auch das Leben seines Zwillingsbruders gefährden könnte. Ich weiß, diese Entscheidung würde zur Folge haben, dass die strenggläubigen Mitglieder meiner Familie mich ein weiteres Mal verurteilen. Der Islam verlangt,
dass die Beerdigung innerhalb von 24 Stunden nach dem Ableben stattfindet. Aber das Leben meines anderen Sohnes ist mir ungleich wichtiger als das. Und es sollte sich zeigen, dass ich die richtige Entscheidung traf.
Der kleine Cenk lacht und schreit, gluckst und fiepst, saugt gierig an der Flasche und schläft friedlich wie eh und je. Wenn ich nachts auf ihn herabschaue, seine kleine Hand in die meine nehme, erscheint mir das unbegreiflich. Noch bin ich unfähig zur Trauer. Zu trauern tut weh, aber dadurch verarbeitet man auch den Verlust. Äußerlich bin ich ständig in Bewegung, es gibt ja auch so viel zu tun in dieser Situation, vor allem, wenn einem keiner kraftvoll zur Seite steht. Aber innerlich, da bin ich reglos und leblos. Wo mein Herz war, da klafft jetzt ein großes schwarzes Loch: die Nähe des Todes. Der plötzliche Kindstod, ein verlässlicher Begleiter meiner Familie, schlägt seine Opfer und verschont andere, ohne dass wir wissen, wen es trifft und wann.
Die Beerdigung findet in Ankara statt. Es sind etwa 50 Menschen zugegen. Alle aus Bekirs Familie. Aus der meinen ist kein Einziger da. Der winzige Sarg ist im Hof der Moschee aufgebahrt. Der Leichnam wird jetzt vom Vater gewaschen, in Gegenwart der männlichen Trauergäste. Anschließend tragen sie ihn zum Friedhof, wir Frauen stoßen hinzu. An der Grabstelle spricht der Hotscha Gebete, dann verabschiede ich mich für immer von meinem Sohn, mit Cenk auf dem Arm. Ich drücke ihn fest an mich. Als der kleine Sarg für immer in der Erde verschwindet, geschieht etwas Merkwürdiges. Mitten im schlimmsten Schmerz empfinde ich doch auch Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür,
dass ich wenigstens das Kind auf meinem Arm behalten darf. Das erste Gefühl des Lebens, das wieder in mir keimt. Jetzt kann meine Trauer beginnen.
Um Cem zu trauern war lange Zeit das wichtigste Gefühl in meinem Leben. Nur indem man seine Trauer mit sich nimmt, lässt man den geliebten Menschen, den man verloren hat, los. Zu trauern heißt verarbeiten, heißt Gefühle des Schmerzes zulassen und sie durchleben. Es heißt aber auch, sich nicht darin zu suhlen. Das Leben fordert seine Rechte. Es forderte sie auch von mir, auch in dieser Situation.
Da war die Sorge um meinen anderen Sohn. Cems Obduktion hatte ergeben, dass der plötzliche Kindstod mit einem angeborenen Herzfehler zu tun hatte. Also musste untersucht werden, ob Cenk ebenfalls gefährdet ist. Es stellte sich heraus, dass er einen Herzklappenfehler hatte. Wochenlang wurde er stationär behandelt. Wieder Bangen und Hoffen! Gottlob ist das Loch später zugewachsen. Aber bis es so weit war, schwebte auch er in Lebensgefahr.
Zwei Jahre lang musste ich Cenk nun zu Hause mit dem Herzmonitor überwachen. Jeden Abend und jedes Mal vor dem Mittagsschlaf wurde er verkabelt und an einen Herzschrittmacher angeschlossen. Damit er
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