Freiheit statt Kapitalismus
programmatische Grundlage erhielt die französische Nachkriegspolitik einerseits durch den französischen Gewerkschaftsbund CGT, der bereits auf seinem großen Kongress in Lyon 1919 ein umfassendes Verstaatlichungsprogramm gefordert hatte, und andererseits durch den Kongress der Résistance von 1944, der die Grundlinie für die Verstaatlichungen nach dem Krieg vorgezeichnet hatte. Charles de Gaulle, der Chef der provisorischen französischen Regierung und spätere französische Präsident, einer der großen Staatsmänner Europas, trat ausdrücklich mit dem Anspruch an, ein wirtschaftliches System aufzubauen, in dem die »Schätze der Nation« nicht zum Profit Einzelner ausgebeutet werden sollten. Eingelöst wurde das allerdings nur zum Teil.
Die ersten Verstaatlichungen fanden 1944 im Bereich der Kohleindustrie im Norden Frankreichs statt, wo die Bergarbeiter die Gruben bereits in Besitz genommen hatten. 1946 war die Verstaatlichung der gesamten Kohleindustrie abgeschlossen. 1945 und 1946 wurden die Bank von Frankreich und die vier größten Depositenbanken verstaatlicht, außerdem die 34 größten Versicherungsunternehmen. Verstaatlicht wurde 1946 ebenfalls die gesamte Elektrizitäts- und Gaswirtschaft. Auch der Autobauer Renault ging 1945 in staatliches Eigentum über, ebenso ein größeres chemisches Unternehmen, dessen Inhaber mit den deutschen Besatzern kollaboriert hatten, sowie Kernbereiche der Rüstungsindustrie.
Erklärtes staatliches Ziel waren der Ausbau der Kapazitäten in den industriellen Basissektoren und die dadurch vorangetriebene Modernisierung der gesamten Wirtschaft. Ergänzt wurden die Verstaatlichungen durch eine öffentliche Steuerung der Wirtschaft im Rahmen der »Planification«: einer Art mittelfristiger Finanz- und Investitionsplanung. Was heute niemand mehr vorzuschlagen wagen würde, erwies sich damals als äußerst erfolgreich. Der erste Plan (auch »Monnet«-Plan genannt, nach seinem Begründer Jean Monnet) gab sechs Wirtschaftsbereiche vor, in denen besondere Engpässe bestanden und die beschleunigt ausgebaut werden sollten: Kohle, Elektrizität, Stahl, Zement, Verkehr sowie die Produktion landwirtschaftlicher Maschinen.
»Der Erfolg des Monnet-Planes ließ die Planification in den Augen vieler Franzosen zu einem Aushängeschild des französischen Weges der staatlich gelenkten Modernisierung werden …«, 162 schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung in einer Kurzdarstellung dieser Phase der französischen Geschichte.
Tatsächlich erlebte Frankreich in den Folgejahren eine Periode extrem hohen Wachstums, die sich erkennbar von der Vorkriegsstagnation abhob. Im Schnitt legte die französische Wirtschaft in den Fünfzigern um 4,8 Prozent jährlich zu, 5,6 Prozent waren es in den Sechzigern. Während die Bedeutung der Landwirtschaft zurückging, dehnten sich die Industrie (bis 1970) und später der Dienstleistungssektor aus. Im Ergebnis gelang es, das Land in nur drei Jahrzehnten aus einer traditionalistischen in eine moderne Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft zu verwandeln.
Die verstaatlichten Unternehmen spielten bei dieser Modernisierungsstrategie eine entscheidende Rolle, weil ohne staatliche Einflussmöglichkeiten auch die Planification ins Leere gelaufen wäre. So konnten die Kapazitäten in den Basissektoren dank staatlicher Verantwortung durch eine weit überdurchschnittliche Investitionstätigkeit ausgebaut und die Entwicklung der übrigen Wirtschaft durch niedrige Preise für Strom, Gas und Kohle unterstützt werden. Über die verstaatlichten Großbanken wiederum wurde die Finanzierung der Investitionsprojekte sichergestellt. Der staatliche Autobauer Renault entwickelte sich zu einem schnell expandierenden, international wettbewerbsfähigen Unternehmen, das auch am deutschen Markt relevante Anteile erobern konnte. Dabei erhielten die Renault-Werke bis in die achtziger Jahre nie staatliche Subventionen. Jedes Jahr wurde vielmehr mit einem Gewinn abgeschlossen, der zur Hälfte an den Staat abgeführt, zur Hälfte an die Belegschaft verteilt wurde.
Die französischen Erfahrungen widerlegen auch die These vom Staatsunternehmen als einer quasi öffentlichen Behörde, in die der zuständige Minister und seine Beamten nach Belieben hineindirigieren können. Tatsächlich waren die Rechtsformen und deren Ausgestaltung in den verstaatlichten Sektoren sehr unterschiedlich. WährendRenault weitgehend unabhängig agierte, unterlag die Preisgestaltung in den
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