Freiheit statt Kapitalismus
anders werden. Als im Herbst 2008 das Weltfinanzsystem in lichten Flammen stand und die Regierungen nahezu aller Industrieländer sich gezwungen sahen, hunderte Milliarden Euro und Dollar in die Glut zu werfen, um wenigstens die gefährlichsten Brandherde zu ersticken, waren viele heilige Schwüre gen Himmel geflogen: Den Zockerbanken sollte das Handwerk gelegt, hochriskante Renditeschinderei auf Kosten der Allgemeinheit in Zukunft verhindert werden. »Cash for Trash« – Steuergeld für Finanzmüll – sollte es nie mehr geben. Stattdessen sollten neue, strengere Regeln und Gesetze her. Schluss sollte sein mit einem System der Gier und Selbstbereicherung, das mit seinen giftigen Ausscheidungen ganze Volkswirtschaften in den Ruin zu treiben drohte. Bundeskanzlerin Angela Merkel wollte das »Primat der Politik« über die Finanzmärkte wiederhergestellt sehen. Auf einem eilig nach dem Kollaps der Investmentbank Lehman Brothers einberufenen Gipfel bekundeten die Regierungen der USA, Chinas, Deutschlands,Großbritanniens und der übrigen G20-Mitglieder ihre Absicht: »Alle Finanzmärkte, Produkte und Akteure sollen reguliert oder beaufsichtigt werden.«
Die Nachricht hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube, mag sich schon damals mancher skeptische Zeitgenosse gedacht haben. Inzwischen steht fest, dass die Skepsis angebracht war. Zwar wurde hier ein wenig geflickt und dort ein bisschen nachgebessert, aber der eigentlichen Ursache der ganzen Malaise wurde nicht zu Leibe gerückt: Diese Ursache ist ein seit drei Jahrzehnten völlig unverhältnismäßig wuchernder Finanzsektor, der trotz (oder gerade wegen!) seiner mittlerweile gigantischen Größe und Macht seine eigentliche und wichtigste Aufgabe nicht mehr erfüllt: die Ersparnisse der Menschen in halbwegs sinnvolle produktive Verwendungen zu lenken.
Das Spiel mit den Billionen
Nirgends wird heute so viel umgesetzt, so viel Gewinn gemacht und so viel verdient wie in der Finanzbranche. Das war nicht immer so. 1945 etwa, als Zinsen und Kapitalverkehr gesetzlich reguliert waren, lag der Anteil des Finanzsektors an den gesamten Unternehmensgewinnen in den USA bei gerade mal 10 Prozent. Zwischen 1973 und 1985 sackten amerikanische Banken, Fonds und Versicherungen zusammen nie mehr als 16 Prozent der Gewinne aller Unternehmen ein. In den Neunzigern und vor allem nach der Jahrtausendwende stieg ihr Gewinnanteil steil an und erreichte auf dem Gipfel der Finanzblase 2007 satte 41 Prozent. Fast jeder zweite Dollar Gewinn wurde also zu dieser Zeit in den USA mit Finanzgeschäften gemacht. Heute liegt dieser Anteil immer noch – oder: schon wieder – bei weit über 30 Prozent.
Eine ähnliche Verschiebung hat es in Großbritannien nach Margaret Thatchers Big Bang zur Deregulierung der Londoner Finanzszene gegeben. Besonders dramatisch fiel der Wandel während der Regierungszeit von New Labour mit Tony Blair an der Spitze aus: Während die Industrieproduktion verkümmerte, boomten die Geldgeschäfte in der City. Auch im Euroraum ist die zusammengefasste Bankbilanz, also das Geschäftsvolumen der Banken, von 220 Prozent des Bruttoinlandsprodukts1998 auf heute 350 Prozent angeschwollen. 2007, auf dem Gipfel des Booms, waren es 360 Prozent. Die Banken bewegen also mehr als dreimal so viel Geld, wie die europäischen Wirtschaften an Gütern und Leistungen produzieren.
Anders als in den USA und Großbritannien werden zwar beispielsweise in der Bundesrepublik neben fragwürdigen Finanzprodukten unverändert auch international gefragte Maschinen und Autos hergestellt, aber die Verlagerung der Wirtschaftsaktivität zugunsten eines wuchernden Finanzsektors ist auch hier spürbar. So machten die Gewinne der Banken in Deutschland 2008 etwa 18,5 Prozent der Gewinne aller Kapitalgesellschaften aus. Und dabei sind die Gewinne von Versicherungen, Finanzinvestoren und Fonds nicht einmal mitgezählt.
Nutzlose Spitzenverdiener
Wo viel Geld zirkuliert, bleibt auch entsprechend viel hängen. Folgerichtig sind die durchschnittlichen Vergütungen im Finanzsektor höher als in allen anderen Wirtschaftszweigen. Josef Ackermann, von 2006 bis Mai 2012 Chef der Deutschen Bank, war über viele Jahre – mit einem kurzen Aussetzer 2008 – der bestbezahlte CEO aller im Deutschen Aktienindex DAX gelisteten Konzerne, wobei ihn die bonigebadeten Investmentbanker seines eigenen Hauses oft noch übertreffen. In den USA verdienten die 25 erfolgreichsten Hedge-Fonds-Manager in den letzten Jahren oft mehr
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