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Freitags Tod

Freitags Tod

Titel: Freitags Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Kuhlmeyer
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der hat mir eine erzählt. Es ist ziemlich lange her.« Er machte eine Pause. Das Fenster klapperte. Tom sah Claires Wimpern gegen das Mondlicht und ihre Augen glänzen.
    »Der Freund war ein kleiner Junge, fünf oder sechs, als er mit seiner Mutter hierherzog. Er hieß Jan, sagte ich das schon? Sie wohnten außerhalb des Dorfes in einem alten Haus. Das Wohnungsamt hatte es ihnen zugewiesen. Jan sagte, man mochte sie nicht, von Anfang an nicht. Das war nicht leicht für ihn, weil er die Frau, die sich ihm als seine Mutter vorgestellt hatte, nicht kannte. Die Jahre zuvor hatte er in einem Kinderheim und sie in Bautzen verbracht.«
    »In Bautzen?«
    »Im Knast für politische Häftlinge. Kurz nach Jans Geburt hat sie versucht, mit ihm in einem Boot über die Ostsee in den Westen zu kommen. Das ist natürlich gescheitert, und dann ging alles seinen Gang. Sie wollte zu Jans Vater, und dann saß sie zuerst in Bautzen und später in diesem Nest fest. In Berlin hatten sie sich kennengelernt, aber die Mauer zwischen den Welten hat ihnen den Himmel geteilt. Jans Vater ist nach Münster zurückgekehrt, doch das ist eine andere Geschichte.« Er schwieg und hing seinen Gedanken nach.
    »Jans Mutter arbeitete in einer LPG, fuhr Trecker und bediente die Melkmaschinen, nachts malte sie und trank. Jan ist mehrmals davongelaufen, aber sie haben ihn immer wieder zurückgebracht. Er war ein schlauer Typ und entgegen den Prognosen seiner Lehrer schaffte er sein Abitur und nahm ein Studium in Berlin auf. Biologie. Er fand das ungefährlich.«
    Claire wandte sich ihm zu, sodass ihr Gesicht im Dunkeln lag. »Was ist aus ihm geworden?«
    »Ein paar Semester ging es gut. Bis er Hannah traf.« Wieder verstummte er. Manchmal fragte er sich, ob es sie je gegeben hatte. »Sie war zart und exotisch, und ein paar Jahre älter als Jan. Ihr Geschichtsstudium hatte sie beendet, bevor Jan auch nur das Vordiplom in der Tasche hatte. Sie feilte an ihrer Promotion und fand, das sei eine gute Zeit zum Kinderkriegen. Jan war begeistert, Geld war allerdings keins da. Also zogen sie zu seiner Mutter, und Jan jobbte als dies und das. Kinder kamen keine, und Hannah war eines Tages fort.« Bis heute verstand er nicht, warum. Seine Mutter war inzwischen gestorben. Sie hatte kein leichtes Leben gehabt, stattdessen einen raschen, unspektakulären Tod.
    »Das ist eine traurige Geschichte.«
    »Ja, ein bisschen.«
    Dafür, dass sie das gesagt hatte, mochte er Claire. Weich und warm kam sie ihm vor. Hannah war anders gewesen, ganz anders, zierlich und zäh wie eine junge Weide.
    Das erste Mal hatten sie sich im Theater geliebt. Als Hannah sich entschloss, Geschichte zu studieren, etwas Solides, brach sie das Schauspielstudium in Leipzig ab. Einige kleine Rollen bekam sie weiterhin. Ganz zu Anfang ihrer Beziehung hatte sie ihn eines Abends in ihren Wagen gebeten und war mit einem vielsagenden Blick losgebraust. Sie fuhr schauderhaft. Gegen neun Uhr schlenderten sie durch die Leipziger Hainstraße, vorbei an restaurierten Passagen, probierten Wein in neu eröffneten Szenekneipen. Weit nach Mitternacht schloss Hannah den Hinteraufgang zur Probebühne des Schauspielhauses auf. Die Bühne war leer bis auf ein Klavier. Hannah spielte Bluesmusik und sang Balladen mit einer fremden, rauchigen Stimme. Tom stellte sich vor, wie es wäre, wenn plötzlich die Lichter aufflammten und der Vorhang sich teilte. Er linste in einen kleinen, leeren Zuschauerraum. Der letzte Ton verhallte, abrupt trat Stille ein. Hannah legte ihm die Arme um die Taille und den Kopf auf seinen Rücken. Die Bretter, die angeblich die Welt bedeuteten, waren grob geschliffen, und es roch nach Staub. Dann war alles sehr schnell gegangen. Sie schliefen einen kurzen Schlaf auf dem harten Boden, bis sie den Hausmeister poltern hörten, und waren lachend mit klopfenden Herzen die Flure entlang nach draußen geflüchtet.
    Eine Krähe schrie, der Wind bauschte die Gardine auf. Claire nahm Toms Hand und küsste seinen Zeigefinger. War es die Unschuld in dieser Geste, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieb? Oder eher die »kleine Dosis«, die er ausgelassen hatte? Aber spielte das eine Rolle? Claire hatte ihm zugehört, und er fühlte sich verletzlich. Er strich eine Strähne aus ihrem Gesicht und küsste sie lange. Ihre Lippen waren fest und warm, und es kam ihm vor, als ob sie lächle. Sein Mund fand seinen Weg ihren Hals hinab zum Schlüsselbein. Das winzige Muttermal, das ihn interessiert hatte, konnte er

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