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Freitags Tod

Freitags Tod

Titel: Freitags Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Kuhlmeyer
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und gehe keinen Schritt weiter.«
    Tom sah mich aus den Augenwinkeln an. »Gut zu Fuß, was?«
    Ich schwieg. Tom hatte mir seine Geschichte erzählt. Es war eine lange, seltsam gewundene Geschichte, die ihn mit diesem einsamen Ort verwoben hatte. Ich wusste natürlich nicht, ob sie wirklich so war, wie er erzählt hatte. Aber was war schon wirklich? Nichts, nur der Sand unter meinen Füßen, und der war Sternenstaub wie mein Hirn.
    Eine Ewigkeit später erreichten wir die Eiche, die letzte, die von dem Wald übrig geblieben war, der sich dereinst hier erstreckt haben mochte. Ich atmete die Kühle unter ihrer Krone und setzte mich neben einen Trupp zartvioletter Hornveilchen. Tom ließ sich zwei Handbreit neben mir nieder. Seine Nähe fühlte sich erstaunlich vertraut an.
    »Wie weit ist es noch?«
    »Je nachdem, wohin du willst.«
    Ich sah ihn an und hatte eine ziemlich unangenehme Befürchtung. »Wie meinst du das?«
    »Wolltest du nicht ans Meer?«
    Sicher wollte ich das, nur mit Gepäck und Auto und auf gar keinen Fall zu Fuß. Tom ließ sich ins Gras fallen, schob die Hände unter den Kopf und blinzelte in die Blätter; Sonnentaler auf seinem Gesicht. Das tiefe Blau seiner Augen war einer lichteren Schattierung gewichen.
    »Ans Meer …« Ich musste nachdenken. »Wie weit ist das?«
    »Weit. Vier, fünf Tage nehme ich an. Natürlich kommen wir zuvor an einer Werkstatt vorbei. Wenn du willst …«
    »Und du?«
    »Ich besorge mir neue Turnschuhe.« Er wies auf das zweifelhafte Paar an seinen Füßen. »Und gehe weiter.«
    »Deinen Weg.«
    »Meinen Weg.«
    Da saß ich nun unter einer Eiche irgendwo im Brandenburgischen und überlegte, wohin das Ganze führte. Das ist ein weites Feld, dachte ich und fragte mich, ob Fontane das so wörtlich gemeint hatte.
    »Und was ist, wenn dein Weg der falsche ist?«
    »Wie kann er das sein? Er ist da, wo ich bin.« Tom stützte sich auf seinen rechten Arm und sah mir ins Gesicht. Mir fiel die feine Narbe am Ende seiner linken Braue auf. Der absurde Wunsch, sie zu berühren, drängte sich auf.
    »Aber er kann in die Irre führen.« Wieso wusste er plötzlich so genau, wohin er wollte? Am Morgen noch war ich den Eindruck nicht losgeworden, dass Tom den Rest seines Lebens zwischen dem Lädchen und dem Gewächshaus mit den fleischfressenden Pflanzen verbringen und den beiden Alten ihren Wein einschenken würde.
    »Das werde ich wissen, wenn ich da bin.«
    »Schreibst du mir eine Karte?« Ich lächelte vorsichtshalber, aber ungläubig.
    »Wenn du mir deine Adresse gibst.« Er nahm eine Haarsträhne von mir und zwirbelte sie um seinen Finger. Ich konnte nicht glauben, dass diese kleine Geste meinen Herzschlag beschleunigte, so wenig, wie ich glauben konnte, was seit heute Morgen geschehen war, alles wegen eines defekten Keilriemens, einer so simplen Panne, dass es schon fast lächerlich war. Und was war geschehen? Nichts eigentlich. Ich hatte ein, zwei Stunden auf einem wenig bequemen Sofa verbracht, und nun war ich mit einem wildfremden Mann in einer Einöde unterwegs, einem Mann, der sehr weiche Lippen hatte, wie ich überrascht feststellte. Einen Moment lang hörte ich das Summen einer Hummel und spürte Sonnenstrahlen auf den Lidern. Dann legte ich ihm meine Hand auf die Brust und schob ihn sanft fort.
    »Ich muss weiter.«
    »Ja, du musst immer weiter, was? Ist es nicht gut hier? Wann hast du zuletzt auf der Erde gesessen, hm? Wo ist denn weiter ? Und was erwartet dich dort, was du hier nicht findest?« Frustriert stand er auf und zupfte einen welken Halm von seinem Hemd. Langsam erhob auch ich mich, strich meinen Rock glatt und lauschte dem Echo seiner Fragen.
    Sicher, ich hatte immer weiter gemusst – Vaters Werkstatt weiter betreiben, das Haus weiter instand und die Kunden weiter bei Laune halten … Aber hatte ich das nicht hinter mir gelassen? Ich war aufgebrochen, um ans Meer zu kommen, weil ich das wollte! Es war überhaupt das erste Mal, dass ich etwas wollte. Und eines wusste ich sicher – dass ich irgendwo bleiben wollte.
    Ich schob den Riemen meiner Tasche über die Schulter, sie kam mir schwer vor, und folgte Toms Rücken.
    Die nächste Stunde trabte ich Tom hinterher. Irgendwann erschien unter meinen Füßen ein altes Pflaster, dann Asphalt, dann wurde der Weg eine Straße und führte zwischen restaurierten Einfamilienhäusern hindurch in einen kleinen Ort, eher einen Flecken, mit einem Platz vor der Kirche, einem winzigen Gasthaus und tatsächlich auch einer

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