Freitags Tod
Eingang immer nur für wenige Sekunden aus den Augen. Passanten gingen ein und aus. Dann endlich trat die Blonde ins Freie und spannte ihren Schirm auf. Die ältere Kollegin, die sie an der Rezeption abgelöst hatte, würdigte Tom keines Blickes, als er an ihr vorbeihastete. Er folgte der Ausschilderung zu Station drei. Auf dem Gang unterhielten sich leise zwei Frauen in abgetragenen Bademänteln. Mit der Hand auf der Klinke zögerte Tom, bevor er das Zimmer dreihundertzwölf betrat.
Eine Traube von Leuten umgab das Bett einer alten Frau, die mit offenem Mund zur Decke starrte. Claire lag am Fenster und hatte das Gesicht abgewandt. Tom fragte sich, ob sie schlief. Mit einem »Entschuldigung« bahnte er sich einen Weg zwischen zwei schwergewichtigen Damen hindurch. Der Regen vor dem Fenster hatte zugenommen, fiel in Schnüren auf das Pflaster zwischen den Häusern. Claire drehte den Kopf. Ein weißer Verband klebte auf ihrer Stirn und verdeckte unvollständig ein Hämatom. Tom atmete auf, er hatte es gewusst, nur eine Platzwunde und ein paar kleine Schnitte vom Sicherheitsglas, die in ein paar Tagen verheilt sein würden.
Die Augen in ihrem blassen Gesicht zeigten kein Erkennen. Tom rückte einen Stuhl heran und nahm ihre Hand.
»Alles okay?«
Sie versuchte, sich aufzurichten. »Tom!« Unter sichtlichen Schmerzen ließ sie sich zurück aufs Kissen fallen. »Was willst du?«
»Dich besuchen?«
Sie nickte. »Danke.«
»Es war nicht ganz leicht, dich zu finden, weißt du.« Tom versuchte, munter zu klingen.
»Nein.«
»Wie lange werden sie dich hier einsperren?«
Claire schloss die Lider. Aus den Augenwinkeln rannen ihr Tränen ins Haar. »Lange, Tom.«
Er fühlte, wie sich etwas in seiner Brust zusammenzog.
»Es ist ab«, sagte sie und schluchzte gequält.
Tom verstand nicht.
»Mein linkes Bein ist ab. Sie haben es mir weggenommen.«
Unwillkürlich blickte Tom auf die Senke in der Bettdecke, unter der ihr Unterschenkel hätte stecken müssen. Ihm schoss das Blut ins Gesicht. Keine Platzwunde, kein gebrochener Finger, man hatte ihr Bein amputiert. Er erinnerte sich, wie Claire auf seinem Sofa geschlafen hatte, beide Füße noch schmutzig vom Sand und vom Leben, auch der linke, den es nun nicht mehr gab.
20
Die Sonne stand tief, und der Schatten des Rathauses reichte bis zur Mitte des Marktplatzes, Geschirrklappern, Kinderlachen vom Springbrunnen her. Fast alle Tische im neu eröffneten Café »Extrablatt« waren besetzt. Mal sehen, wie lange es sich halten würde, dachte Julia. Für sie könnte es zu einem Lieblingsort werden, denn die Erdbeeren mit dem Sahnehäubchen hatten köstlich geschmeckt. Diesen Genuss würde sie nun gern mit einer Zigarette krönen – aber sie hatte das Rauchen ja schon vor Jahren aufgegeben.
Der Wetterbericht hatte ein stabiles Hochdruckgebiet vorhergesagt, der Fall war so gut wie abgeschlossen, und Julia überlegte, wie sie die freien Tage, die sie sich nun bald nehmen könnte, verbringen wollte. Ans Meer oder in die Berge? Vielleicht konnte Sonja sich freimachen, und sie hätten eine lustige Zeit miteinander. In den letzten Monaten hatte sie die Freundin kaum zu Gesicht bekommen. Julia fehlten die langen Gespräche und ihr Lachen. Sicher mussten noch ein paar Dinge geklärt und abgeschlossen werden, aber die würden spätestens am nächsten Wochenende erledigt sein.
August Ostendarp musste allerdings noch eine Weile im St.-Vincenz-Hospital zubringen. Wenn die Stichverletzung, die ihm beigebracht worden war, keine tödlichen Folgen gehabt hatte, dann nur, weil Bulldoggengesicht, die unsympathische Pflegerin, der Julia im Altenheim begegnet war, ihn rechtzeitig gefunden und versorgt hatte. Eine Woche, wenn überhaupt, sagten die Ärzte, dann sei er wieder der Alte. Julia hatte den Eindruck, dass er das jetzt schon war. Zwar hatte sein Grinsen ein wenig gezwungen gewirkt, als sie sich neben sein Bett gesetzt hatte, aber die Befriedigung, Recht gehabt zu haben, war ihm ebenso anzusehen.
Bisher hatten weder Eck noch die Eichler auch nur einen Piep zu dem Vorfall gesagt. Aber für Julia und auch für Ostendarp gab es keinen Zweifel daran, dass sie für die Attacke verantwortlich waren. Welchen Grund hätten sie sonst gehabt, so übereilt davonfliegen zu wollen? Wahrscheinlich hatten sie die Aufzeichnungen Ostendarps gesucht, die sie belasteten, und nicht erwartet, dass der alte Mann erwachte, glaubten sie doch, ihm einen ordentlichen Cocktail Schlaftabletten verpasst zu haben,
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