Freitags Tod
mutmaßte Julia. Sie hatten natürlich nicht mit Ostendarps Vorsicht gerechnet. Leider hatte er seinen Angreifer nicht genau sehen können, weil alles zu schnell gegangen war und er nachts keine Brille trug, doch man würde Zeugen finden, da war sich Julia sicher. Und letztlich würde man auch Zeugen für den Mord an Freitag finden.
Die Ärzte hatten Ostendarp nahegelegt, nach dem Krankenhausaufenthalt eine Reha in Anspruch zu nehmen, was der alte Mann vehement ablehnte. Für so einen Unsinn habe er schließlich keine Zeit, beteuerte er Julia. Sie lächelte, als sie daran dachte. Plötzlich kam ihr eine Idee. Conrad hatte sie telefonisch nicht erreichen können, um ihm den Stand und baldigen Ausgang der Ermittlungen mitzuteilen, stattdessen hatte sich seine Mutter bei ihr gemeldet und sich über den unauffindbaren Sohn beschwert. Vielleicht hätte August Ostendarp ja Lust, ein paar Tage im Kotten von Maria Böse zu verbringen. Soweit Julia wusste, war die alte Dame noch ganz fit, obwohl Conrad das bestritt, und würde sich über etwas Gesellschaft freuen. Julia nahm sich vor, Ostendarp diesen Vorschlag zu machen.
Die Sonne verschwand hinterm Dach des Rathauses, es wurde ein wenig kühler. Nach Hause gehen mochte Julia noch nicht, es wartete sowieso niemand auf sie. Niemand. Unerwartet stellte sich ein Gefühl der Leere ein. Mit einer Kopfbewegung schüttelte sie es ab. Ein Gläschen Sekt wäre jetzt das Richtige, dachte sie. Das Auto konnte sie ja stehen lassen und den Weg nach Hause zu Fuß gehen. Sie winkte dem Kellner, als ihr Telefon klingelte. Conrad. Na, endlich. Aber es war nicht Conrad.
»Ich kann Conrad nicht erreichen.«
Sven.
»Wo steckst du?«
»Na, wo schon? Im Büro natürlich.«
»Und Sammy?«
»Seine Mutter hat ihn abgeholt und ist wutentbrannt davongerauscht. Hast du etwas von Conrad gehört?«
»Nein. Funkloch oder was, jedenfalls meldet er sich nicht.«
»Wenn er wieder da ist, werde ich ihm gehörig den Kopf waschen. Was willst du von ihm?« Der Sekt kam, aber Julia rührte ihn nicht an. Ihr Nacken verspannte sich.
»Ich hab den Obduktionsbefund. Und jetzt darfst du staunen.« Eine Pause entstand und machte Julia kribbelig.
»Nun mach’s nicht so spannend, Sven. Was steht drin?«
»Die Verstümmelung der Augen des Opfers muss mehrere Stunden nach seinem Tod stattgefunden haben.« Wieder eine bedeutungsschwere Pause.
»Ja und?«
»Was, ja und? Wer immer das getan hat, muss noch einmal zum Tatort zurückgekehrt sein, um den Rest zu erledigen. Findest du das nicht eigenartig? Welches Interesse könnte Eck daran haben, so etwas zu tun?«
Das war eine ganz neue Entwicklung, eine, die Julia gar nicht gefiel.
Plötzlich sagte er: »Warte, bleib mal dran.«
Julia trank den Sekt in einem Zug aus und hatte das Gefühl, dass er ihr unmittelbar zu Kopfe stieg. Sie bezahlte die Rechnung und stand auf. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihren Beinen trauen konnte. Dann war Sven wieder da.
»Gerade ist Henry Freitag hier hereingeschneit, diesmal ohne Anwalt, und er will ein Geständnis ablegen. Kannst du kommen?«
Julia seufzte. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Die Phantasie vom weiten Meer, von klarer Bergluft löste sich in Nichts auf.
»Bin unterwegs«, sagte sie und begab sich zu ihrem Wagen.
In den Gängen des Präsidiums war es still, nur gedämpft vernahm Julia die Beschimpfungen eines Betrunkenen aus der Zelle. Mit schlechtem Gewissen dachte sie an das Glas Sekt, das sie getrunken hatte. Henry Freitag saß Sven am Schreibtisch gegenüber. Die Männer schwiegen, als Julia eintrat.
»Meine Kollegin, Frau Morgenstern, kennen Sie schon, Herr Freitag«, begann Sven, nachdem Julia sich einen Stuhl herangezogen und sich neben Sven niedergelassen hatte. Freitag nickte. Er sah Julia ins Gesicht, seine Augenringe schienen noch dunkler geworden zu sein.
»Ich habe es Herrn Bentrup schon angedeutet. Sie haben den Falschen eingesperrt. Ich habe meinen Vater umgebracht.«
Julia sagte: »Aha«, und lehnte sich zurück.
»Ja.«
Draußen senkte sich die Dämmerung über die Stadt. Autos fuhren vorbei. Sven holte Luft.
»Sie wollen ein Geständnis ablegen, Herr Freitag. Etwas mehr müssten wir über den Hergang der Tat und Ihre Gründe dafür schon erfahren.«
»Ja«, sagte er wieder und sein Blick heftete sich in die rechte Zimmerecke. Julia und Sven sahen sich an.
»Hören Sie. Ich weiß nicht, was Sie plötzlich dazu bewegt, zu behaupten, Sie hätten Ihren Vater ermordet, aber wenn
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