Freitags Tod
Sie das tatsächlich getan haben, können Sie sicher auch sagen, wie und warum.« Der Typ machte Julia ganz unruhig mit seinem Schweigen.
»Ja, klar«, sagte er dann, als würde er aus einem Traum erwachen. »Selbstverständlich. Das müssen Sie natürlich wissen.« Er setzte sich gerade auf seinen Stuhl, strich sich mit der Hand durchs Haar und blickte Julia an.
»Ich habe schon erwähnt, dass ich kein gutes Verhältnis zu meinem Vater hatte. Er war der widerlichste Dreckskerl, der mir je begegnet ist. Er schlug mich mit seinem Gürtel. In der Schule meldete ich mich beim Sport krank, damit niemand die blauen Flecken und Abschürfungen sah. Meine Mutter schrieb mir regelmäßig eine Entschuldigung. Meine Mutter!« Wieder trat eine Pause ein.
»Was ist mit ihr?« Julia wollte ihm keine Zeit lassen.
»Auch sie wurde von ihm geschlagen, nachts, wenn der Alte glaubte, dass ich schlief. Aber ich schlief nicht.«
»Wie oft kam das vor?«
»Ein-, zweimal in der Woche, manchmal öfter. Ich hörte nur dumpfe Geräusche, sonst nichts. Mutter weinte immer leise. Ich konnte sie nicht beschützen. Ich war doch selber noch ein Kind.« Tränen stiegen in Henry Freitags Augen, dann fuhr er fort. »Als ich fünfzehn war, hörte es auf. Es war wieder so eine völlig nichtige Situation.« In Erinnerung daran schüttelte er den Kopf. »Mutter hatte Taschen voller Einkäufe mit dem Rad nach Hause gebracht. Sein Auto durfte sie nicht benutzen, und dass er einkaufte, wäre nicht in Frage gekommen. Sie schleppte die Einkäufe in die Küche, der Henkel einer Tasche riss, Gemüse, Käse, Spülmittel kullerten über den Boden. Eine Rotweinflasche zerbrach. Ich half ihr gerade aufräumen, als mein Vater hereinkam. Mutter hielt die Scherben der Flasche in der Hand. Er schlug sie ins Gesicht. Ich schrie, er solle aufhören, aber er schlug wieder zu. Dann packte ich sein Handgelenk. Er war stark und drohte mir schreckliche Strafen an. Es wird dir leid tun, warnte ich ihn. Bevor er seine Rechte befreien konnte, knallte ich ihm meine Faust ins Gesicht.«
»Ihr Vater war ein gewalttätiger Mann. Ich verstehe«, sagte Julia. »Aber das ist lange her. Sie sind erwachsen, haben studiert, einen guten Job. Aus welchem Grund wollen Sie ihn jetzt umgebracht haben?«
Henry Freitag hob die Hand und ließ sie dann kraftlos auf den Schreibtisch fallen. »Gottfried, ich sage nicht gerne mein Vater , musste ein paar Tage im Krankenhaus bleiben. Sein Jochbogen war gebrochen. Von da an schlug er mich nicht mehr. Er schickte mich ins Internat nach Buldern. Was in der Zeit zu Hause passierte, kann ich nur vermuten. Meine Mutter hatte keine blauen Flecken an sichtbaren Stellen, und wenn ich sie fragte, schwieg sie. Sophie ging vom Gymnasium ab, weil sie die erforderliche Leistung nicht brachte, dabei war sie ein kluges Kind. Sie wurde immer verschlossener. Ich weiß nicht, was er mit ihr tat, aber ich ahnte, dass sie litt. Nach Möglichkeit verbrachte ich die Wochenenden bei einer Freundin. Später begann ich mein Studium und ließ mich kaum noch zu Hause sehen.« Auf Henrys Stirn waren Schweißperlen getreten. Er war sehr blass.
»Das ist alles sehr schlimm für Sie und Ihre Familie gewesen, erklärt aber immer noch nichts. Viele Menschen müssen unter solchen Bedingungen aufwachsen, die wenigsten bringen ihre Eltern um.« Es war nicht so, dass Julia kein Mitgefühl für Henrys Geschichte aufbrachte, aber hatte nicht jeder Gewalttäter eine schlimme Kindheit gehabt? Das war kein Grund, jemanden umzubringen, und schon gar keiner, einen Mord zu gestehen, den er nicht begangen hatte. Sven zog die Schublade seines Schreibtischs auf. Julia entdeckte die Packung Zigaretten darin. Er hätte wohl gerne eine davon genommen, schob die Schublade aber wieder zu und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Wenn Sie für den Mord verantwortlich sind, erzählen Sie uns endlich, wie Sie es getan haben und warum ausgerechnet jetzt«, sagte er.
Henry schüttelte den Kopf. »Es waren nicht nur die Schläge. Es waren auch die Demütigungen. Ich wusste, dass der Alte am Donnerstag länger im Büro bleiben würde und wollte meine Mutter besuchen. Ich richtete es immer so ein, dass ich ihm nicht begegnen musste. Am Abend fand ich sie schlafend auf dem Sofa im Wohnzimmer. So was war noch nie vorgekommen. Meine Mutter schlief nie so früh, sie hatte immer etwas zu tun, und wenn sie gerade nichts zu tun hatte, sorgte der Alte dafür. Ich versuchte, sie zu wecken, aber sie hob nur
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