Freiwild
einem anderen in einer Nacht- und Nebelaktion seine gesamte Wohnung ausgeräumt. Er war nach Hause gekommen und fand nur noch die leere Wohnung vor, die er dann aus lauter Wut und Enttäuschung demoliert hatte. Er hätte sich aus lauter Liebe zu seiner Frau damit arrangieren können, das Kuckuckskind großzuziehen. Aber das war ihr wohl nicht genug gewesen. Seine Frau hatte sich oft darüber beschwert, dass 'er ja nie dagewesen sei'. Ich sah die Parallelen unserer Vergangenheit. Auch Peter hatte sich immer beschwert, dass ich zu viel Zeit in die Arbeit steckte und mich zu wenig um ihn gekümmert hatte. Ich seufzte: „Und jetzt? Kann ich Ralf irgendwie helfen?“. Micha schüttelte den Kopf: „Nee, die werden ihn erst mal entwaffnen und dann wird er eingebuchtet. Dort darf er dann über seine Taten nachdenken. Vielleicht darf er aber Besuch empfangen. Mal sehen, wir können später ja mal schauen gehen.“
Voller Sorgen um Ralf ging ich in mein Zimmer. Dort schaute ich mir die Fotos vom Vormittag an, die entstanden waren, als die Welt noch in Ordnung war. Mir war schmerzlich bewusst, dass ich viel Spaß gehabt hatte, während Ralf in einer Bredouille gesteckt hatte. Es tat mir Leid und ich hatte ein schlechtes Gewissen. Die Sache mit der Hand auf meinem Hintern trat komplett in den Hintergrund. Es gab jetzt wirklich Wichtigeres.
Ich konnte mich nicht auf die Fotos und meine Arbeit konzentrieren. Immer wieder drifteten meine Gedanken zurück zu Ralf. Auch wenn ich noch so angestrengt nachdachte, mir fiel kein Grund ein, warum Ralf sich geprügelt hatte. Dieser wilde Ausdruck auf seinem Gesicht hatte mich erschreckt. Noch nie hatte ich ihn so dermaßen wütend gesehen und es ängstigte mich. Ich hatte mir bis jetzt nicht vorstellen können, dass er auch so außer Kontrolle geraten konnte.
Schließlich klopfte es und Micha streckte seinen Kopf zur Tür herein: „Komm, wir gucken mal nach Ralf“. Dankbar sprang ich von meinem Schreibtisch hoch und wir liefen zum Arrestgebäude.
Ralf saß in einem kleinen, vergitterten Raum auf einer Pritsche, die Hände vor die Augen geschlagen. Seine Uniform war immer noch zerrissen und das getrocknete Blut klebte ihm im Gesicht. Er hatte sich in sich zurückgezogen und nahm nicht wahr, dass ich mich näherte. Leise sprach ich ihn durch das Gitter an: „...Ralf?“. Er schreckte hoch und sah mich gequält an. Er sah furchtbar aus und um Jahre gealtert. Sorgenfalten durchzogen seine Stirn, die Haare waren zerrauft und der Mund nur noch eine dünne Linie. „Anne!“, Ralf versuchte ein Lächeln, aber es blieb ihm im Hals stecken. Dann stand er auf und ging zum Gitter. Sein deprimiertes und schuldbewusstes Auftreten ließ ihn plötzlich nur noch halb so groß erscheinen. Es tat mir weh, ihn so zu sehen.
„ Was ist um Himmels Willen passiert?“. Ich steckte meine Hand durch die Gitterstäbe, um ihn an der Wange zu berühren, wurde aber unverzüglich zurück gepfiffen. Die Wachen guckten mich grimmig an: „Kein Kontakt!“. Schnell zog ich meine Hand zurück. Ich wollte Ralf nicht noch mehr Ärger machen, als er ohnehin schon hatte. Aber mir blutete das Herz bei diesem Anblick und ich neigte meinen Kopf so weit es ging an die Gitterstäbe.
„ Dieser Franzose...“, Ralf kämpfte mit seiner Beherrschung. Alleine die Erinnerung daran brachte ihn in Rage, „Er ist ein Kumpel von dem, der dir das alles angetan hat. Und er hat sich lustig gemacht über dich. Er hat gesagt...“, aber seine Stimme brach. So unglücklich hatte ich ihn noch nicht erlebt. Ralf räusperte sich und setzte erneut an: „Er sagte, dass du es nicht anders verdient hättet und du selbst schuld bist. Und wenn Richard es nicht getan hätte, dann eben ein anderer.“ Gequält schaute er mich an: „...und da konnte ich nicht mehr anders.“
„ Oh, Ralf!“. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Einerseits fand ich es romantisch, dass er mich verteidigt hatte und diesen Arrest in Kauf nahm. Aber ich sah auch die Warnung dahinter. Ich war in den Augen der anderen Freiwild. Beute für die Wölfe. Gänsehaut zog sich mir den Nacken hoch und ich fröstelte. Nicht jede Begegnung mit anderen Männern würde so harmlos ablaufen wie ein Tätscheln auf meinem Po.
Die Wache ermahnte mich, dass es Zeit war zu gehen. Ich war bedrückt und nachdenklich. Es war meine Schuld, dass Ralf in dieser Situation war. Wieder auf dem Hof stieß ich auf Oberst Breitenbacher, der gerade Feierabend machen wollte. Micha, der die
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