Freiwild
hängenden Schultern ging Ralf durch die Tür und erinnerte dabei stark an Vieh, das zur Schlachtbank geführt wurde. Kurze Zeit später kam auch der Franzose und betrat den Raum. Er sah schlimm aus. Seine Nase war dick angeschwollen, ein Auge war dunkelblau unterlaufen und die Unterlippe war eingerissen. Ralf hatte ganze Arbeit geleistet. Der französische Soldat bedachte mich mit einem kurzen, abwertenden Blick, bevor er an mir vorbei ging. Aber ich schob mein Kinn vor und schaute trotzig zurück. Ich ließ mich von so einem Idioten doch nicht einschüchtern!
Es schien ewig zu dauern, bevor die Tür wieder geöffnet wurde. Trotz aller Anstrengungen, durch die Tür zu lauschen, hatte ich nichts erfahren können. Ich entdeckte Ralf und stürmte auf ihn zu, umschloss ihn fest mit meinen Armen. „Und? Nun sag schon!“. Ralf grinste, er wirkte wesentlich erleichterter. Der Colonel, ein Mann mit grauen Haaren und eindrucksvoller Ausstrahlung, fing zu lachen an: „Ah... la Madame!“, und Ralf nickte ihm zu.
„ Wir haben es geklärt. Der Colonel war beeindruckt, dass ich dich so verteidigt hatte. Der Ordnung halber bekomme ich eine offizielle Ermahnung, aber das war es auch schon. Alles gut.“ Er lächelte und mir fiel ein Felsbrocken vom Herzen. „Und der Andere?“, fragte ich vorsichtig. „Na, der muss auch ein paar Strafarbeiten leisten, aber das wird innerhalb seiner Einheit geklärt. Jedenfalls weiß er jetzt, dass man keine ranghöheren Offiziere provoziert.“
Ich war beeindruckt: „Du bist offensichtlich ein hohes Tier, du Oberfeldwebel!“. Ich neckte ihn und er umschloss mich mit seinen Armen und wirbelte mich durch die Luft. „Na, und ob! Hast du eine Ahnung!“. Dann drückte er mir einen festen, sehr feuchten Kuss auf die Lippen. Er war wie ausgetauscht und wieder der vergnügte, entspannte Ralf, den ich kannte. Ich wollte seine gute Laune nicht gleich wieder zerstören. Es blieb noch genug Zeit, über Patrick oder die anderen dummen Sachen zu reden. Erst mal genossen wir den Nachmittag zusammen.
Später zeigte ich ihm die Bilder, die ich bei Micha und seinen Babys gemacht hatte. Ralf zeigte sich beeindruckt. Es waren einige Fotos von Micha dabei, die er lange betrachtete: „Wow, so habe ich Micha noch nie gesehen!“ Ralf legte den Kopf schief und sah gebannt auf den Monitor. „Eigentlich hatte ich ihn immer für einen dicken Brummbär gehalten. Aber so sieht er so...“, er suchte nach den richtigen Worten, „...erwachsen aus. Ernsthaft. Interessant. Da könnte man fast neidisch werden, dass du so Aufnahmen von Micha machst, aber von mir nicht.“ Ralf neckte mich, aber er meinte es nicht ernst. Ich hatte ihn schon oft mit meiner Kamera bei der Arbeit besucht. Aber er hatte auch Recht. Meine Bilder waren ernsthafter geworden. Ich beobachtete mehr und hatte ein anderes Gefühl für Motive entwickelt. Ich sah die Dinge mit anderen Augen und achtete mehr auf Details, das war auch schon meiner Agentur aufgefallen. „Ich glaube, ich habe mich in letzter Zeit stark verändert“, sinnierte ich so vor mich hin. „Ich habe kaum noch was mit dem Mädchen zu tun, das ich war, als ich hier ankam. Und das habe ich dir zu verdanken!“ Ich umarmte ihn stürmisch und drückte meine Nase an seinen Hals, um seinen Geruch zu inhalieren. Dann murmelte ich: „Das mit den Fotos von dir, das lässt sich ändern!“ und grinste bei der Vorstellung, Ralf mal als mein Motiv zu benutzen. Ich küsste ihn, lange und leidenschaftlich, bis wir beide außer Atem waren. „Ich liebe dich!“. Mir platzte bald das Herz vor lauter Gefühlen für Ralf. Ich konnte mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Es war so selbstverständlich, diese drei bedeutsamen Worte zu ihm zu sagen. Er schaute mir tief in die Augen. Ich sah meine Reflektion in seinen Pupillen, die sich unmerklich zu weiten schienen. Leise flüsterte er: „Ich liebe dich auch. Ich möchte ohne dich nicht mehr leben.“ Aber dann senkte er den Blick und schien nachzudenken. „Deine Zeit ist hier bald um. Und was ist dann? Was passiert mit uns dann?“. Er wirkte plötzlich unsicher, verletzlich. Verzweifelt. Ich hatte darüber noch keinen Gedanken verloren. Ich fühlte mich hier heimisch. In Deutschland war nichts. Kein Freund, kein Heim, kein Garnichts. Ich wollte nicht zurück. Ich wollte sein, wo Ralf war und das sagte ich ihm auch. „Weißt du, das wird ein Problem. Ich bin eben ein Soldat. Ich werde nie pünktlich jeden Abend nach der Arbeit nach
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