Fremde am Meer
weiter den Strand entlang. Die Wolkendecke, hinter der die Sonne den ganzen Tag über verborgen gewesen war, hatte sich endlich aufgelöst, und der Sonnenuntergang färbte die verbliebenen dünnen Fetzen in ein zartes Lila. Ich wusste, dass meine Fotos nur ein blasser Abklatsch der Realität sein würden, aber ich machte trotzdem noch ein paar Aufnahmen. Ich lief weiter, als ich beabsichtigt hatte, und richtete die Kamera dabei immer wieder aufs Meer. Außer den aufgewühlten Wellen war nichts zu sehen.
Doch plötzlich zeigte sich inmitten des wogenden Wassers hinter der Brandung ein kleiner Fleck. Ich weiß nicht, wieso ich das winzige Etwas überhaupt bemerkte, aber ich fing schon an zu rennen, ehe ich erkannte, was es war. Ich ließ die Kamera fallen und riss mir die Jacke vom Leib, während ich darauf zulief. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis das Wasser tief genug zum Schwimmen war. Hektisch suchte ich mit den Augen die vor mir liegende Fläche ab. Mir war sehr kalt. Mein ganzer Körper fühlte sich wie von innen her gefroren und erstarrt an. Erst als ich ihn schließlich entdeckte, konnte ich wieder atmen. Er war nicht mehr weit von mir entfernt, und als ich die letzten Züge schwamm und meine Hand endlich sein Haar berührte, rief ich immer wieder seinen Namen. Ich konnte mich selbst kaum hören, weil das donnernde Brechen der Wellen meine Stimme fast übertönte. Wir stiegen auf und sanken, getragen von der enormen Energie unter uns. Ich drückte ihn an meine Brust, und er erschien mir schwerelos, als ich auf dem Rücken mit ihm auf den Strand zuschwamm. Er bewegte sich nicht, leistete keinerlei Widerstand, sondern lag schlaff in meinen Armen Er war bewusstlos. Als ich wieder Boden unter den Füßen hatte, hievte ich ihn hoch und watete das letzte Stück durchs Wasser. Ich erreichte trockenen Sand, legte ihn hin und begann, ihn zu beatmen. Seine Lippen waren kalt, und er lag mit ausgebreiteten Armen reglos da, aber unter meinen Händen konnte ich seinen Herzschlag spüren. Ich fuhr fort, seine Lunge mit meinem Atem zu füllen, bis sich seine Brust schließlich krampfartig zusammenzog und er einen ersten krächzenden Atemzug tat und hustete. Ich drehte ihn auf die Seite und sah, wie ihm das Meerwasser aus dem Mund floss. Ich wartete, bis alles aus ihm herausgekommen war, rollte ihn wieder auf den Rücken und kniete, die Hände auf seiner Brust, einen Moment lang da. Seine Augen waren immer noch geschlossen. Als er schließlich wieder gleichmäßig atmete, hüllte ich ihn in meine Jacke, hängte mir die Kamera über die Schulter, hob ihn auf und schleppte ihn, so schnell es mir möglich war, zurück zu meinem Haus.
Drinnen legte ich ihn auf das Sofa im Wohnzimmer. Er sah so klein aus, viel jünger – mit seinen geschlossenen Augen und dem schlaffen Körper – als in seinem normalen lebendigen Zustand. Ich zögerte ein wenig, bevor ich ihm seine nassen Kleider auszog. Ich hatte schon sehr früh bemerkt, dass er sich nicht gern anfassen ließ. Nur ein paar Mal – wenn ich seine Haare einer Läusekur hatte unterziehen oder eine Wunde verbinden müssen – hatte er mir erlaubt, ihn zu berühren, und ich hatte sehr darauf geachtet, ihn merken zu lassen, dass ich sein Bedürfnis nach Distanz respektierte. Sonst scheute er auch vor der beiläufigsten Berührung zurück.
Doch jetzt zog ich ihm sanft sein T-Shirt über den Kopf, sodass seine magere Brust sichtbar wurde, und legte seinen Kopf vorsichtig auf das Kissen. Ich konnte seine Rippen zählen. Aber dann hielt ich abrupt inne, und meine Hände fielen mir in den Schoß.
Ich schaute hinunter auf das kleine Kind.
Und ich fing an zu weinen und flüsterte, unfähig, damit aufzuhören, immer wieder: »Nein, o nein«, während ich das nasse T-Shirt in meinen Händen knetete.
Unter seinen Achseln waren dunkle blaue Flecken, als hätte ihn jemand gewaltsam hochgerissen. Um seinen Hals zeichneten sich dunkle Male ab, als hätte jemand versucht, ihn zu würgen. Ich beugte mich vor und drehte ihn sanft auf die Seite. Über den Nieren befand sich ein großer Bluterguss. Und neben den frischen Prellungen befanden sich schwächer ausgeprägte ältere.
Ich hatte derartige Verletzungen schon gesehen und wusste, dass sie nicht im Meer entstanden waren. Ebenso wenig stammten sie von meinen Wiederbelebungsversuchen. Nein, sie rührten von den Händen, dem Fuß eines Erwachsenen her. Waren Ergebnisse der vorsätzlichen Misshandlung des kleinen Körpers.
Ich stand auf
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