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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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nicht existierte. Aber jetzt wurde mir abrupt bewusst, dass es ein Draußen gab.
    Vielleicht war die Erinnerung an den Moment, in dem ich dorthin katapultiert wurde, nur natürlich.
    Sie steht oben am Schlafzimmerfenster und wartet auf ihre Mutter. Hinaussehen kann sie nur, wenn sie sich auf etwas stellt. Deshalb hat sie sich einen Stuhl herangezogen und ist hinaufgeklettert. Sie muss gewusst haben, dass Mutter kommt. Sie ist angespannt. Nicht aus Vorfreude, sondern instinktiv, als Reaktion auf eine nicht zu erklärende Bedrohung. Da steht sie nun und wartet. Schon lange? Vielleicht. Es scheint ihr jedenfalls so. Es ist ein windstiller und sonniger Tag, und eine Fliege ist im Zimmer eingesperrt. Sie summt, während sie langsam auf dem Fensterbrett entlangkrabbelt, und unternimmt ab und zu einen trägen Versuch zu fliegen, jedes Mal kürzer. Das Mädchen wartet, und ihr wird immer beklommener. Sie muss pinkeln, doch sie kann jetzt nicht weg hier. Sie hört ein Auto, ohne es zu sehen.
    Als sie Mutter schließlich am Tor sieht, beginnt ihr der Hals wehzutun. Es fühlt sich an, als ob etwas darin steckt, und sie will es hinunterschlucken, aber das klappt nicht. Sie muss wirklich pinkeln. Sie presst die Oberschenkel zusammen. Sie muss hierbleiben, weiter Ausschau halten. Ihre Mutter sieht merkwürdig aus von oben. Sie kann ihre Haare sehen, nicht aber ihr Gesicht. Natürlich weiß sie, dass es ihre Mutter ist. Doch sie kommt ihr verändert vor. Irgendetwas stimmt nicht. Dieser Besuch ist anders als sonst. Und sie muss hier stehen und zuschauen, obwohl sie es nicht will.
    Sie weiß, dass Mutter lächelt, als sie das Tor hinter sich schließt, auch wenn sie das Gesicht nicht sehen kann. Aber Mutter lächelt mit dem ganzen Körper, mit jeder Bewegung. Mit dem neuen roten Kleid. Den passenden roten Schuhen. Nun stellt sie ihren kleinen braunen Koffer auf dem Rasen ab, rafft mit einer Hand ihr blondes Haar und wendet ihr Gesicht der Sonne zu. Jetzt kann sie das Lächeln sehen. Mutter macht die Augen zu und lächelt und lächelt. Der Wind verfängt sich in dem weiten Rock ihres Kleides, sodass er sich um sie bläht. Sie glaubt nicht, dass Mutter sie sehen kann, und winkt nicht. Sie hat die Finger um die Kante des Fensterbretts geklammert, und ihre Stirn berührt die Scheibe. Mutter greift nach ihrem Koffer und lächelt immer noch, als sie, unsicher auf ihren hochhackigen Schuhen balancierend, den Kiesweg entlanggeht. Sie sieht leicht und wunderschön aus und schwingt ihre weiße Handtasche hin und her.
    Das kleine Mädchen schaut reglos zu. Auch die Fliege bewegt sich nicht mehr. Sie liegt auf dem Rücken, die Beine in der Luft. Das Mädchen hört den Kies knirschen, als Mutter ihren Weg zur Veranda fortsetzt.
    Plötzlich ist ihr nach Weinen zumute. Sie lässt sich zu Boden gleiten und rennt schlitternd über die glänzenden Dielen des Treppenabsatzes. Sie kann nicht länger an sich halten und spürt, wie ihr Pipi die Innenseite ihrer Schenkel hinunterrinnt. Auch ihre Tränen kann sie nicht mehr zurückhalten. Eine Hand auf dem Treppengeländer, eilt sie so schnell wie möglich nach unten. Rennt durch den Flur in die Küche, als ginge es um Leben und Tod. Der Großvater sitzt am Tisch, die Zeitung vor sich ausgebreitet. Ohne seinen Blick von der Seite zu wenden, streckt er einen Arm aus und zieht sie auf seinen Schoß, als sie bei ihm ist. Es scheint ihm nichts auszumachen, dass ihr Höschen nass ist, also stört es sie auch nicht. Sie gräbt ihre Nase in das Hemd, das nach Großvater riecht. Er streichelt ihren Arm mit seiner rauen Hand. Er muss es auch wissen, doch er sagt nichts. Es ist, als ob sie beide vorgeben, die leichten Schritte draußen nicht zu hören, erst auf dem Kies, dann auf der Holztreppe, auf der Veranda. Über die Schwelle durch die offene Tür. Großvaters Blick bleibt auf die Zeitung gerichtet, und er streichelt weiterhin ihren Arm. Noch als sie Mutters Parfüm schon riechen kann, lässt sie die Augen geschlossen und das Gesicht in den Falten von Großvaters Hemd vergraben. Sie will das Lächeln nicht sehen, das neue Kleid.
    Sie hört, wie ihre Mutter sich einen Stuhl heranzieht und der Rock raschelt, als sie sich setzt.
    Und während Mutter spricht, umklammert Großvater ihre Taille immer fester, ebenso wie sie seinen Hals. Sie halten sich aneinander fest wie zwei Ertrinkende.
    »Ich bin gekommen, um Marianne abzuholen«, sagt ihre Mutter.

7
    Ich stand auf, wischte mir den Sand von der Hose und ging

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